Gewährleistung der Sicherheit als Kernaufgabe des Staates
Es gehört zu den Kernaufgaben des Staates, Leben und körperliche Unversehrtheit der Menschen zu schützen. In der effektiven Erfüllung dieser Aufgabe liegt die eigentliche Legitimation des Staates und des bei ihm befindlichen Gewaltmonopols. Art. 99 der Bayerischen Verfassung bringt dieses Grundrecht auf Sicherheit wie folgt auf den Punkt: „Die Verfassung dient dem Schutz und dem geistigen und leiblichen Wohl aller Einwohner.“ Neue Gefährdungslagen und Bedrohungsmodalitäten, zumal durch die neuen Anschlagsstrategien des Terrorismus fordern den Staat heraus. Darauf reagieren die Gesetzgeber in Bund und Ländern mit der Schaffung neuer Befugnisse für die Polizei und Nachrichtendienste, der Bund vor allem durch das neue BKA-Gesetz (s. dazu Solmecke: Neue Sicherheitsgesetze vom Bundestag verabschiedet).
PAG-Novelle vom Juli 2017: Die wesentlichen Neuerungen
Im Juli 2017 hat auch der Bayerische Landtag wesentliche Neuerungen im Bayerischen Polizeiaufgabengesetz (PAG) beschlossen. Ziel der neuen Maßnahmen ist es insbesondere, gefährliche Personen effektiver überwachen zu können. Der polizeirechtliche Gefahrenbegriff wird weiterentwickelt, zusätzliche Befugnisse werden eingeführt, bestehende Befugnisse werden zum Teil deutlich ausgeweitet. Grundlegend neu ist die Kategorie der „drohenden Gefahr“, durch die Eingriffsbefugnisse der Polizei zeitlich vorverlagert werden. Dadurch soll effektiver gegen „Gefährder“ vorgegangen werden können, die bisher noch nicht strafrechtlich in Erscheinung getreten sind und von denen noch keine unmittelbare im Sinne einer konkreten Gefahr ausgeht. Die Polizei enthält zudem die Befugnis, Kontaktverbote sowie Aufenthaltsver- oder -gebote auszusprechen (Art. 16 PAG) sowie das Tragen einer „elektronischen Fußfessel“ (Art. 32 a PAG: „elektronische Aufenthaltsüberwachung“) anzuordnen. Zudem wird die Möglichkeit des Präventivgewahrsams materiell und in zeitlicher Hinsicht ausgedehnt (Art. 17, 20 PAG).
Neue Kategorie „drohende Gefahr“
Durch Art. 11 Abs. 3 PAG wird als neue polizeirechtliche Kategorie der Begriff der „drohenden Gefahr“ eingeführt. Während bislang für den polizeilichen Zugriff auf Rechtsgüter des Einzelnen als Eingriffsschwelle eine konkrete Gefahr gefordert wurde, soll nun die „drohende Gefahr“ genügen. Die „drohende Gefahr“ ist dadurch gekennzeichnet, dass noch keine hinreichend konkretisierten Tatsachen vorliegen, die das Wahrscheinlichkeitsurteil zulassen, dass es bei unbehindertem Ablauf des Geschehens zu einem Schaden für ein polizeiliches Rechtsgut kommen wird. Die drohende Gefahr liegt also nach dem Verständnis des Gesetzes noch vor der Schwelle der konkreten Gefahr. Es handelt sich bei der drohenden Gefahr aber auch nicht um eine bloß abstrakte Gefahr. Denn Art. 11 Abs. 3 PAG stellt nicht auf eine allgemein bestehende Gefahr im Sinne der aufgrund der allgemeinen Lebenserfahrung nur gedachten Gefahr ab. Art. 11 Abs. 3 PAG nimmt vielmehr auf einen konkreten Lebenssachverhalt Bezug, der aufgrund bestimmter tatsächlicher Umstände bereits so verdichtet ist, dass sich das Wahrscheinlichkeitsurteil im Hinblick auf einen bevorstehenden Schaden für ein bedeutendes Rechtsgut nicht nur aus einem allgemeinen Lebensrisiko oder aus der reinen Vorstellung speist. Aufgrund eines individuellen (also eines konkreten) Verhaltens einer Person (Art. 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 PAG) oder aufgrund von (ebenfalls konkreten) „Vorbereitungshandlungen“ (Art. 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 PAG) muss sich der tatsächliche Sachverhalt bereits so konkretisiert haben, dass ein bereits dergestalt konkretisiertes Geschehen vorliegt, dass der Schluss auf ein in absehbarer Zeit eintretendes schädigendes Verhalten (in der Modalität eines Angriffs) gerechtfertigt ist. Im Grunde ist die drohende Gefahr nichts anderes als eine im Hinblick auf das Wahrscheinlichkeitsurteil abgestufte konkrete Gefahr. Der Gesetzgeber, der eine neue Gefahrenkategorie schafft, die nicht zum überkommenen Kanon der polizeirechtlichen Gefahrenbegriffe gehört, begeht damit noch keinen Verfassungsverstoß – so sieht es auch das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zum BKA-Gesetz (Urt. v. 16.04.2016 – 1 BvR 966/09 u.a., Rn. 111 ff.). Ein verfassungsrechtliches Problem entstünde vielmehr erst dann, wenn der Gesetzgeber einen solchen Gefahrenbegriff wählte, der das polizeiliche Eingreifen in grundrechtlich geschützte Rechtsgüter von jeglicher Eingriffsschwelle freistellen würde. Dies ist durch den neuen Art. 11 Abs. 3 PAG aber gerade nicht erfolgt.
Aufhebung einer Höchstdauer des Präventivgewahrsams
Bisher war die Dauer des Präventivgewahrsams (insbesondere zur Verhinderung von Straftaten) auf zwei Wochen begrenzt (Art. 20 Satz 2 PAG a. F.). Diese Begrenzung ist aufgehoben worden. Künftig ist in der richterlichen Entscheidung die Dauer der Freiheitsentziehung zu bestimmen, die nicht mehr als drei Monate betragen darf und jeweils um längstens drei Monate verlängert werden kann. Damit gibt es in der Sache keine zeitliche Obergrenze mehr. Zwar fordern weder Art. 2 Abs. 2 GG noch Art. 102 BV eine solche. Gleichwohl dürfte angesichts der Intensität des Grundrechtseingriffs (Freiheitsentziehung) mit der Neuregelung auch unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes die Grenze des verfassungsrechtlich Zulässigen erreicht sein. Der Gesetzgeber sollte darüber nachdenken, zusätzliche verfahrensrechtliche Sicherungen in Art. 20 PAG vorzusehen. So käme etwa bei mehrfacher Verlängerung des Gewahrsams ein qualifiziertes Antragserfordernis dergestalt in Betracht, dass der Antrag auf richterliche Entscheidung der Bestätigung durch den Staatsminister des Innern bedarf. Zusätzlich könnten Berichtspflichten gegenüber dem Landtag erwogen werden.
Bewertung
„Der Staat ist der wichtigste Garant unserer Freiheit – und ihr größter Widersacher“. So hat es Horst Dreier vor kurzem treffend formuliert. Das Paradox der Freiheit liegt darin, dass der Staat in sie eingreifen muss, um sie zu bewahren. Das neue bayerische Polizeirecht ist von diesem Spannungsverhältnis gezeichnet. Betrachtet man die teilweise weitreichenden Änderungen im Lichte des Rechtsstaatsprinzips und der Grundrechte (insbesondere des Verhältnismäßigkeitsprinzips), wird man konstatieren müssen, dass der Gesetzgeber wohl an die Grenze des verfassungsrechtlich Zulässigen gegangen ist, diese aber nicht überschreitet. Angesichts der zumal durch terroristische Angriffe bedrohten hochrangigen Rechtsgüter und der darauf bezogenen grundrechtlichen Schutzpflichten des Staates wird man die neuen Befugnisse und Befugniserweiterungen unter strenger Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Einzelfall und einer konsequenten Anwendung des Richtervorbehalts für verfassungsrechtlich noch vertretbar erachten können. Allerdings bedarf es doch einer genauen Beobachtung, ob, in welchem Umfang und in welchen Modalitäten die Polizei von den neuen Befugnissen Gebrauch macht. Insbesondere die Ausweitung der Möglichkeit des Unterbindungsgewahrsams birgt eine deutliche Verschärfung des Zugriffsinstrumentariums der Polizei. Dieses muss begleitet werden durch eine hinreichende verfahrensrechtliche Kontrolle.
Prof. Dr. Josef Franz Lindner hat den Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Medizinrecht und Rechtsphilosophie der Juristischen Fakultät Augsburg inne.