Rechtliches

Haftung bei Kollision nach Anfahrt vom Fahrbahnrand

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Im Rahmen des § 7 Abs. 5 Satz 1 StVO ist ein „anderer Verkehrsteilnehmer“ nur ein Teilnehmer des fließenden Verkehrs, also nicht der vom Fahrbahnrand An- und in den fließenden Verkehr Einfahrende.[1]  In dem vorliegenden Fall parkte die Klägerin mit ihrem Fahrzeug in einer längs zur Fahrbahn angeordneten Parkbucht neben einer zweispurigen Straße. Beim Ausparken in Fahrtrichtung kollidierte sie mit dem Fahrzeug der Beklagten, die in diesem Moment einen Spurwechsel auf die rechte Fahrbahn vorgenommen hatte.

Das Amtsgericht gab der auf Zahlung der gesamten Reparaturkosten für das Klägerfahrzeug gerichteten Klage auf der Grundlage einer Haftungsquote von 50% teilweise statt. Das LG Düsseldorf bestätigte die Schadensteilung, ermäßigte jedoch die zu erstattenden Reparaturkosten. Die Revision der Beklagten beim BGH hatte vorerst Erfolg.

BGH hebt Urteil auf

Der VI. Zivilrat des Bundesgerichtshofs hob das Urteil des LG auf, da die vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen nicht die Annahme rechtfertigten, die Beklagte habe den Unfall schuldhaft mitverursacht. Nach Meinung des BGH ging das Berufungsgericht zu Recht von einem schuldhaften Verstoß des Führers des klägerischen Fahrzeugs aus.

Nach § 10 Satz 1 StVO habe derjenige, der von einem anderen Straßenteil – hier aus einer Parkbucht – auf die Fahrbahn einfährt, sich so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen sei. Die auf der Straße fahrenden Fahrzeuge hätten gegenüber dem vom rechten Fahrbahnrand an- und in die Straße einfahrenden Verkehr Vorrang. Weiterhin kann der Einfahrende jedoch nicht darauf vertrauen, dass die rechte Fahrspur frei bleibt.

Vielmehr muss er stets mit einem Fahrstreifenwechsel eines Teilnehmers des fließenden Verkehrs rechnen. Der Führer des Klägerfahrzeugs hätte daher, als sich das Beklagtenfahrzeug für ihn sichtbar näherte, aufgrund des Vorrangs des fließenden Verkehrs nicht weiter in den rechten Fahrstreifen einfahren dürfen. Die Annahme des Berufungsgerichts, es liege eine schuldhafte Verletzung durch die Beklagte vor, sei jedoch rechtsfehlerhaft, so der BGH.

Ein Fahrstreifen dürfe nur gewechselt werden, wenn eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen sei. In diesem Fall ist ein „anderer Verkehrsteilnehmer“ nur ein Teilnehmer des fließenden Verkehrs, also nicht der vom Fahrbahnrand An- und in den fließenden Verkehr Einfahrende.

Müsse der Fahrstreifenwechsler gegenüber allen Verkehrsteilnehmern, auch gegenüber Einfahrenden, dieselben höchsten Sorgfaltsanforderungen wie der Einfahrende wahren, stünden sich gleichartige Sorgfaltsanforderungen gegenüber. Dies wäre schwerlich mit dem Vorrang des fließenden Verkehrs vereinbar.

Weiterfahrt darf nicht erzwungen werden

Trotz des grundsätzlichen Vorrangs des fließenden Verkehrs hat auch der Spurwechsler auf den Ein- oder Anfahrenden Rücksicht zu nehmen und eine mäßige Behinderung hinzunehmen. Diesen Vorrang gegenüber dem Einfahrenden hat auch der den Fahrstreifen Wechselnde.

Der fließende Verkehr darf seine ungehinderte Weiterfahrt aber nicht erzwingen und muss das Ein- oder Anfahren anderer Fahrzeuge gegebenenfalls durch Verringern seiner Geschwindigkeit erleichtern.

 

Entnommen aus RdW-Kurzreport, 22/2022, Rn. 369.

[1] BGH, Urteil vom 08.03.2022 – VI ZR 1308/20.