Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (VGH) hat geurteilt, dass ein Verbot für den Radverkehr rechtswidrig ist, wenn eine qualifizierte Gefahrenlage weder aus dem Gefälle des betroffenen Streckenabschnitts noch aus dessen Ausbauzustand, seiner Unübersichtlichkeit, der Verkehrsbelastung oder den Unfallzahlen und auch nicht aus der Gesamtschau dieser Umstände resultiert.
Sachverhalt
Der Kläger wendet sich gegen das Verbot des Radfahrens auf einer öffentlichen Straße. Aufgrund mehrerer Zuschriften von Radfahrenden wurde das erstmals 1993 angeordnete Verbot erneut im Gemeinderat der Beklagten behandelt und von diesem u. a. beschlossen, den Vorschlag zur Aufhebung des Fahrverbots abzulehnen.
Die Straße beinhalte einen Abschnitt mit einem Gefälle von 18 %, weise deutliche Kurven auf und sei an manchen Streckenstellen weniger als 4 m breit. Wegen der Ausflugsziele … und der Floßrutsche sei das Verkehrsaufkommen durch motorisierte Fahrzeuge und Fußgänger hoch. Am 12.07.2019 ordnete der erste Bürgermeister der Beklagten die Bekanntmachung der Anordnung an.
Mit Schreiben vom 24.04.2020 erhob der Kläger Klage beim Verwaltungsgericht (VG). Das zunächst starke Gefälle nehme im Verlauf der gesperrten Strecke deutlich ab. Der von der Beklagten erwähnte tödliche Unfall im Jahr 2014 habe sich im unteren Abschnitt der Straße ereignet, in dem kein Radfahrverbot gelte. Der gestürzte Radfahrer habe beide Hände vom Lenker genommen, um sich während der Fahrt eine Jacke anzuziehen.
Das VG hat die Klage abgewiesen. Die vom VGH zugelassene Berufung des Klägers war erfolgreich und führte zur Aufhebung des Verbots. Dem Beschluss des VGH entnehmen wir:
Voraussetzungen für Beschränkungen des fließenden Verkehrs
„Nach § 45 Abs. 1 Satz 1 der Straßenverkehrs-Ordnung (StVO) … können die Straßenverkehrsbehörden die Benutzung bestimmter Straßen oder Straßenstrecken aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung des Verkehrs beschränken oder verbieten und den Verkehr umleiten. Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen sind nur dort anzuordnen, wo dies aufgrund der besonderen Umstände zwingend erforderlich ist (§ 45 Abs. 9 Satz 1 StVO).
Insbesondere Beschränkungen und Verbote des fließenden Verkehrs dürfen, abgesehen von den in § 45 Abs. 9 Satz 4 bis 6 StVO vorgesehenen, hier nicht einschlägigen Ausnahmen, nur angeordnet werden, wenn aufgrund der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht, die das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der in den vorstehenden Absätzen genannten Rechtsgüter erheblich übersteigt (§ 45Abs. 9 Satz 3 StVO).
Als in Bezug auf Beschränkungen und Verbote des fließenden Verkehrs speziellere Regelung konkretisiert und verdrängt § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO in seinem Anwendungsbereich die allgemeinen Regelungen in § 39 Abs. 1 und § 45 Abs. 9 Satz 1 StVO …
Qualifizierte Gefahrenlage erforderlich
Die für solche Maßnahmen erforderliche, auf besondere örtliche Verhältnisse zurückgehende qualifizierte Gefahrenlage kann insbesondere durch die Streckenführung, den Ausbauzustand, witterungsbedingte Einflüsse, die Verkehrsbelastung und die daraus resultierenden Unfallzahlen begründet sein …
Sie kann sich auch aus einer Gesamtschau einzelner, für sich allein noch nicht hinreichend gefahrbegründender Umstände ergeben … Dabei setzt die nach § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO erforderliche qualifizierte Gefahrenlage nicht zwingend voraus, dass ohne die Maßnahme alsbald mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit vermehrt Schadensfälle zu erwarten wären.
Zu beachten ist allerdings, dass aufgrund des Vorbehalts des Straßenrechts und der insoweit maßgeblichen Widmung der Straße mit der Anordnung einer Verkehrsbeschränkung auf der Grundlage des Straßenverkehrsrechts kein Zustand dauerhaft herbeigeführt werden kann, der im Ergebnis auf eine endgültige Entwidmung oder Teileinziehung hinausläuft …
Auch wenn ein vollständiges Fahrverbot für Fahrzeuge, die nach der für den Streckenabschnitt maßgeblichen Widmung grundsätzlich zugelassen sind, wie hier nur für eine Fahrtrichtung angeordnet ist, kommt es nur als Ultima Ratio in Betracht.
Die Annahme der Voraussetzungen des § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO durch die Behörde ist gerichtlich voll überprüfbar …“
Gefälle als mögliche Gefahrenquelle
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Ausbauzustand als mögliche Gefahrenquelle
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Unübersichtlichkeit als mögliche Gefahrenquelle
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Verkehrsbelastung als mögliche Gefahrenquelle
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Unfallzahlen als Indiz für das Bestehen einer Gefahrenlage
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Gesamtbetrachtung der konkreten Umstände
„Auch die Gesamtbetrachtung der vorgenannten Umstände rechtfertigt nicht die Annahme einer qualifizierten, das Verbot begründenden Gefahrenlage. Wie bereits ausgeführt können sich die Tatbestandsvoraussetzungen des § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO auch aus dem Zusammentreffen mehrerer gefahrenträchtiger Umstände ergeben.
Primär ist dabei jedoch die Unfallhäufigkeit in den Blick zu nehmen. Hiervon ausgehend erweisen sich die Straßenverhältnisse, die Topographie, die Verkehrsbelastung und die Unfallzahlen in der Gesamtschau als nicht so auffällig, dass ein Verbot für den Radverkehr als Ultima Ratio angezeigt wäre.
Keine qualifizierte Gefahrenlage gegeben
Auch wenn das Befahren der M. straße bergab mit dem Fahrrad (aber auch mit anderen Fahrzeugen) durchaus erhöhte Aufmerksamkeit, Vorsicht und Rücksicht auf andere Verkehrsteilnehmer erfordert, zeigen die Angaben der Beklagten zu den erfassten Zweirädern und den bekannt gewordenen Unfällen nicht, dass die Unfallzahlen signifikant höher wären als auf vergleichbaren Strecken.
So weist der Unfallatlas des Statistischen Bundesamts in der näheren Umgebung etwa für die abschüssige S. straße … für die Jahre 2016 bis 2022 durchweg höhere Unfallzahlen mit Fahrrad-Beteiligung und Personenschaden auf. Zwar lassen sich Fahrradunfälle auf der M. straße bergab auch bei angepasster und StVO-konformer Fahrweise nie völlig ausschließen. In Anbetracht der bisherigen Unfallhäufigkeit liegt jedoch keine qualifizierte Gefahrenlage vor.
Ob sich riskante Geschwindigkeitsüberschreitungen oder Fahrweisen einzelner Radfahrer durch bauliche, nicht ihrerseits verkehrsgefährdende Maßnahmen, etwa durch gekennzeichnete Bodenwellen, Rüttelstreifen, profilierte Fahrbahnmarkierungen oder Kopfsteinpflasterabschnitte, vermeiden oder reduzieren ließen, bleibt einer Prüfung und Entscheidung der Beklagten überlassen.“
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Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschl. v. 07.05.2024 – 11 B 23.1992
Den vollständigen Beitrag lesen Sie in der Fundstelle Bayern 20/2024, Rn. 233.