Richtgeschwindigkeit
In Deutschland gilt seit 1978 auf Autobahnen und außerorts auf ähnlichen Straßen (bauliche Trennung zwischen den Richtungsfahrbahnen oder mindestens zwei Fahrstreifen je Richtung) eine Richtgeschwindigkeit von 130 km/h (§ 1 Autobahn-Richtgeschwindigkeits-Verordnung).
Sie ist lediglich eine Empfehlung, nicht schneller als 130 km/h zu fahren, und keine allgemeine zulässige Höchstgeschwindigkeit. Die Überschreitung der Richtgeschwindigkeit ist keine Straftat oder Ordnungswidrigkeit. Bei einem Unfall kann jedoch (nicht: muss) eine Mithaftung des Schnellerfahrenden in Betracht kommen. Mit einer solchen Fallkonstellation hatte sich das Oberlandesgericht Hamm1 zu befassen.
Der Sachverhalt
Ein Autofahrer fuhr mit seinem Seat auf der linken Fahrspur einer zweispurigen Autobahn. Er beabsichtigte, einen auf der rechten Fahrspur befindlichen Dacia mit einer eigenen Geschwindigkeit von etwa 150 km/h zu überholen. Die Autobahn war weithin sichtbar vor den beiden Fahrzeugen „frei“.
Als der Seat-Fahrer sich dem Dacia weitgehend genähert hatte, scherte dessen Fahrer plötzlich unvermittelt ohne ersichtlichen Grund und ohne zu blinken auf die linke Fahrspur. Es kam zum Auffahrunfall, weil der von hinten kommende Autofahrer nicht mehr rechtzeitig abbremsen und dem herübergewechselten Fahrzeug auch nicht mehr ausweichen konnte.
Der Seat-Fahrer verlangte Ersatz für den entstandenen Sachschaden in Höhe von 7700 € von dem Spurwechsler. Dieser war der Auffassung, dass den von hinten heranfahrenden Wagenlenker ein Mitverschulden in Höhe von 25 % an dem Unfallereignis treffe, da er die Richtgeschwindigkeit deutlich überschritten habe. Bei Annäherung mit lediglich 130 km/h hätte der Unfall vermieden werden können. Das Oberlandesgericht Hamm war jedoch ganz anderer Auffassung und verurteilte den Spurwechsler, den entstandenen Schaden an dem von hinten auffahrenden Seat in vollem Umfang zu erstatten.
Grobes Verschulden des Spurwechslers
Den Dacia-Fahrer traf ein erhebliches Verschulden an dem Unfallereignis. Aus Unachtsamkeit, ohne den erforderlichen „Schulterblick“ beim Spurwechsel und ohne den rückwärtigen Verkehr auch ansonsten zu beobachten, hatte er sein Fahrzeug, ohne zu blinken, auf die linke Spur herübergezogen. Dies war umso erstaunlicher, da die Autobahn weithin sichtbar vor dem Autofahrer frei war.
Demgegenüber konnte dem überholenden Autofahrer kein mitverursachender Verkehrsverstoß zur Last gelegt werden. Angesichts der vor den beiden Fahrzeugen freien Autobahn habe er nicht mit einem plötzlichen Spurwechsel rechnen müssen. Eine Geschwindigkeitsbegrenzung sei auf dem Streckenabschnitt nicht angeordnet gewesen; es galt somit die allgemeine Richtgeschwindigkeit von 130 km/h.
Da es sich hierbei lediglich um eine Richtgeschwindigkeit und nicht um die Anordnung einer zulässigen Höchstgeschwindigkeit handelt, ist grundsätzlich ein Überschreiten dieses Geschwindigkeitswerts zulässig. Angesichts der im vorliegenden Fall bestehenden guten Straßen- und Sichtverhältnisse sei die um 20 km/h erhöhte Geschwindigkeit mit der Situation vereinbar gewesen. Aus der maßvollen Überschreitung der Richtgeschwindigkeit habe sich keine Gefahrensituation für den vorausfahrenden Dacia-Fahrer ergeben. Denn häufig bestehe die Gefahr, dass die Annäherungsgeschwindigkeit des rückwärtigen Verkehrs bei erheblicher Überschreitung der Richtgeschwindigkeit unterschätzt werde. Hier habe jedoch der Spurwechsler aus Unachtsamkeit und ohne den rückwärtigen Verkehr überhaupt zu beobachten einen Fahrstreifenwechsel ausgeführt. In diesem Fall hatte sich also das Überschreiten der Richtgeschwindigkeit für den Spurwechsler nicht gefahrerhöhend ausgewirkt.
Letztlich habe der von hinten herankommende Autofahrer auch darauf vertrauen dürfen, dass angesichts der völlig freien Autobahn der zu überholende Autofahrer seinen rechten Fahrstreifen nicht grundlos verlassen würde.
Somit war der Spurwechsler verpflichtet, die Reparaturkosten für die am Seat entstandenen Schäden in voller Höhe zu erstatten.
1 OLG Hamm, Beschluss vom 8. Februar 2018 – 7 U 39/17, besprochen in RdW 2018 Rn. 201.