Rechtliches

Entziehung der Fahrerlaubnis nur bei regelmäßig übermäßigem Gebrauch des Arzneimittels

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Bei einer Kontrolle am 10.03.2021 stellten die Polizeibeamten bei einem Fahrerlaubnisinhaber, der als Fußgänger unterwegs war, Marihuanageruch fest. Laut der Strafanzeige des Polizeireviers holte er einen Joint aus seiner Hosentasche hervor und legte ein auf ihn ausgestelltes Betäubungsmittelrezept vor, mit dem er gegenüber den Beamten den Besitz des Joints zu legitimieren versuchte.

Die Staatsanwaltschaft sah anschließend von einer Verfolgung nach § 31 a Abs. 1 Betäubungsmittgesetz (BtMG) ab, da das bei ihm aufgefundene Tabak-Marihuana-Gemisch mit einem Gewicht von 0,97 Gramm offensichtlich nur zum gelegentlichen Eigenverbrauch vorgesehen gewesen sei.

Bei der weiteren Kontrolle am 30.03.2021 saß der Fahrerlaubnisinhaber mit einem Bekannten auf einer Parkbank, wobei der Bekannte soeben einen Joint rauchte, den er wegwarf, als sich die Beamten zu erkennen gaben. Dabei lag neben ihm ein diesem gehörender Crusher mit Marihuana-Resteintragungen von 0,73 Gramm, der von den Beamten beschlagnahmt wurde.

Gegen die Beschlagnahme ließ er durch seinen Verfahrensbevollmächtigen bereits mit Schreiben vom 01.04.2021 u. a. ausführen, dass er Cannabispatient sei und den Beamten das Rezept vorgelegt habe. Auf das Anhörungsschreiben vom 14.10.2021, mit dem die Fahrerlaubnisbehörde ihn von der beabsichtigen Entziehung der Fahrerlaubnis wegen nicht bestimmungsgemäßer Einnahme des ärztlich verordneten Cannabis unterrichtet hatte, ließ er ihr gegenüber nur vortragen, dass er als Cannabispatient unter das Medikamentenprivileg falle.

Fahrerlaubnisinhaber hatte erst im November 2021 einen „Vaporizer“ angeschafft

Nach Erlass der Entziehungsverfügung vom 28.01.2022 hatte er im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gegenüber dem Verwaltungsgericht (VG) vortragen lassen, dass er bei der ersten Polizeikontrolle den Beamten „freiwillig seinen mit Medizinal-Cannabis und CBD-Hash gefüllten Joint samt seinem Cannabis-Rezept“ ausgehändigt habe. Er habe den Beamten sogar sein Krankheitsbild genannt und die Mütze heruntergenommen, um den Beamten zu zeigen, dass ihm an manchen Stellen die Haare fehlten.

Die Beamten hätten ihm gleichwohl vorgeworfen, sein Medikament nicht ordnungsbzw. weisungsgemäß zu konsumieren. Er habe zu diesem Zeitpunkt noch keinen adäquaten „Vaporizer“ (Inhalationsgerät) besessen, „um die vollständige Wirkung seines Medikaments zu entfalten“. Zu dieser Zeit habe er nur einen „Vape Pen“ gehabt, „der aber nicht in ganzerWeise die Aufgabe erfüllt hat“. Erst nach der Kontrolle habe er sich den von der Apotheke empfohlenen Vaporizer angeschafft.

Aus den insoweit erst im Beschwerdeverfahren gegenüber dem Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (VGH) vorgelegten Unterlagen geht hervor, dass er den aus seiner Sicht adäquaten Vaporizer erst Ende November 2021 angeschafft hat. Bei einer lebensnahen Würdigung dieser gesamten Umstände ist davon auszugehen, dass er zumindest in dem Zeitraum von Januar bis November 2021 das für die Linderung seiner Krankheit und damit für sein Wohlbefinden wichtige Medizinal-Cannabis nicht nur sporadisch in der für ihn damals bestmöglich erscheinenden Darreichungsform durch Verbrennung und Inhalation eingenommen hat. Hierbei handelte es sich um eine nicht bestimmungsgemäße bzw. verordnungswidrige Einnahme dieses Medikaments. Jedenfalls wurde ihm wegen regelmäßig übermäßigem Gebrauch von psychoaktiv wirkenden Arzneimitteln die Fahrerlaubnis entzogen.

Behörde war damals nicht in der Lage, das Vorliegen des sich aus der Fahrerlaubnisverordnung ergebenden Eignungsmangels lückenlos darzutun

Der Fahrerlaubnisbehörde war dabei zuzugeben, dass die Entziehung der Fahrerlaubnis nur möglich ist, wenn die Ungeeignetheit, hier i. S. d. Nr. 9.4 der Anlage 4 der Fahrerlaubnisverordnung (FeV), aufgrund erwiesener Tatsachen positiv festgestellt wird. Die Behörde trägt für das Vorliegen eines Eignungsmangels, ggf. unter Einbeziehung von Mitwirkungspflichten des Betroffenen, die materielle Beweislast. Liegen zwar Eignungszweifel vor, steht aber, aus welchen Gründen auch immer, nicht fest, ob der Betroffene geeignet oder ungeeignet ist, so kann die Fahrerlaubnis nicht entzogen werden.

In den Zeitpunkten des Anhörungsschreibens vom 14.10.2021 und der Entziehungsverfügung vom 28.01.2022 bestanden aufklärungsbedürftige Zweifel an der Fahreignung gem. § 46 Abs. 3, §§ 11 bis 14 FeV, ohne dass die Fahrerlaubnisbehörde seinerzeit in der Lage gewesen wäre, das Vorliegen des sich aus der Nr. 9.4 der Anlage 4 der FeV ergebenden Eignungsmangels lückenlos darzutun. Dass der Fahrerlaubnisinhaber am 10.03.2021 einen zum Konsum vorbereiteten Joint bei sich geführt und der Behörde von sich aus kein aussagekräftiges ärztliches Attest vorgelegt hatte, war seinerzeit nicht einmal ansatzweise geeignet, einen regelmäßig übermäßigen und damit missbräuchlichen Gebrauch des ärztlich verordneten Arzneimittels beweiskräftig zu belegen.

Es genügt, wenn der übermäßige Gebrauch häufiger als nur sporadisch, also nicht nur ein- oder mehrmalig vorkommt

Ein „übermäßiger Gebrauch“ liegt nicht nur bei einer zu hohen Dosierung des Medikaments vor, sondern auch bei einer verordnungswidrigen Einnahme. Nach dem Wortlaut der Nr. 9.4 der Anlage 4 der FeV ist die Annahme der Nichteignung aber nur gerechtfertigt, wenn der „übermäßige Gebrauch“ des Arzneimittels regelmäßig erfolgt.

Regelmäßig ist hierbei nicht i. S. d. Nr. 9.2.1 der Anlage 4 der FeV zu verstehen, sondern es genügt, wenn der übermäßige Gebrauch häufiger als nur sporadisch, also nicht nur ein- oder mehrmalig vorkommt. Allerdings hat sich in der Zwischenzeit der Erkenntnisstand und die Sachlage zulasten des Fahrerlaubnisinhabers geändert, sodass der VGH mit dem VG bei der im Verfahren nach § 80 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) gebotenen summarischen Prüfung zu dem Ergebnis gelangt, dass zumindest von einem in der Vergangenheit liegenden die Fahreignung ausschließenden Arzneimittelmissbrauch i. S. d. Nr. 9.4 der Anlage 4 der FeV als erwiesen auszugehen sein dürfte.

Diese Änderung ist schon deshalb zu beachten, weil für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Fahrerlaubnisentziehung auf die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung abzustellen und hier über den Widerspruch gegen die Entziehung noch nicht entschieden worden ist. Aus den Akten geht jedenfalls inzwischen hinreichend eindeutig vor, dass der Antragsteller sich mindestens seit Januar 2021 wegen seiner Morbus-Crohn-Erkrankung in einer fortlaufenden und regelmäßigen Behandlung mit ärztlich verordnetem Medizinal- Cannabis befindet.

Dieses Medikament habe nach seinen Angaben den Gesundheitszustand deutlich verbessert und ihm ermöglicht, sein Leben normal weiterzuführen, seine Krankheitstage deutlich zu reduzieren und trotz seiner Erkrankung täglich bei der Arbeit zu erscheinen.

Das Verwaltungsverfahren war noch nicht durch den Erlass eines Widerspruchsbescheids abgeschlossen

Weiter geht der VGH mit dem VG davon aus, dass der Fahrerlaubnisinhaber bis zur Anschaffung eines adäquaten Vaporizers Ende November 2021 das ihm verordnete Cannabis auch mittels Joints, also durch Verbrennung und Inhalation, konsumiert hat. Dies ergibt sich aus den beiden Vorfällen im März 2021 und seinen eigenen, z. T. späteren Erklärungen. Damit dürfte aller Voraussicht nach eine die Fahreignung nach Nr. 9.4 der Anlage 4 der FeV ausschließende missbräuchliche Einnahme des Medizinal-Cannabis vorgelegen haben.

Wird, wie hier der Fall, eine Fahrungeeignetheit festgestellt, so ist grundsätzlich von deren Fortbestand auszugehen, solange nicht vom Betroffenen der materielle Nachweis der Wiedererlangung der Fahreignung erbracht wird. Allerdings geht der VGH in st. Rspr. davon aus, dass die Frage, ob der betreffende Inhaber zwischenzeitlich die Fahreignung wiedererlangt hat, auch für die Rechtmäßigkeit einer Entziehungsverfügung von Bedeutung ist.

Dies gilt jedenfalls dann, wenn, wie hier und in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes häufig, das Verwaltungsverfahren noch nicht durch den Erlass eines Widerspruchsbescheids abgeschlossen ist. Daraus folgt, dass bei hinreichend belastbaren Anhaltspunkten für eine mögliche Wiedergewinnung der Fahreignung und der ernsthaft erklärten Bereitschaft des Betroffenen, sich einer erforderlichen Begutachtung zu unterziehen, das der Fahrerlaubnisbehörde bis zum Erlass eines Widerspruchsbescheids insoweit zustehende Ermessen dahingehend auf „Null“ reduziert sein kann, dass sie rechtlich verpflichtet ist, entsprechende Aufklärungsmaßnahmen einzuleiten.

Der im Rechtsstaatsprinzip verankerte Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung gem. Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz verpflichtet Ausgangs- und Widerspruchsbehörde dazu, im Widerspruchsverfahren eine materiell richtige Entscheidung zu erzielen. Entscheidungserheblicher Sachverhalt ist von Amts wegen aufzuklären Hierbei haben sie, soweit erforderlich, nach § 24 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 79 zweiter Halbsatz Landesverwaltungsverfahrensgesetz (LVwVfG) den entscheidungserheblichen Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären.

Im vorliegenden Fall hat der Fahrerlaubnisinhaber zwar noch nicht den materiellen Nachweis der Wiedererlangung der Fahreignung erbracht. Er hat aber durch die im Verlauf des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens von ihm vorgelegten Unterlagen hinreichend belastbare Anhaltspunkte aufgezeigt, die für eine Wiedererlangung der Fahreignung sprechen und die der Fahrerlaubnisbehörde Veranlassung geben, nicht im Rahmen eines Antrags auf Neuerteilung der Fahrerlaubnis, sondern bereits im laufenden Widerspruchsverfahren die hier erforderliche Aufklärungsmaßnahme einzuleiten.

Der Betroffene hat sich mit Schriftsatz seines Verfahrensbevollmächtigen vom 07.09.2022 dazu bereit erklärt, seine Fahreignung unter Beweis zu stellen und sich hierzu einer durch die Behörde veranlassten medizinisch-psychologischen Untersuchung zu unterziehen. Im Hinblick auf die somit von der Behörde i. R. d. Widerspruchsverfahrens zeitnah zu erlassende Gutachtensanordnung weist der VGH darauf hin, dass sich bei dem Inhaber angesichts der Vorgeschichte ohne Weiteres die Frage stellt, ob künftig mit der zuverlässigen Einnahme des Medizinal-Cannabis nach der ärztlichen Verordnung zu rechnen ist.

Die damit aufgeworfenen Fragen der Compliance bzw. Adhärenz sowie der Fähigkeit und Bereitschaft zum verantwortlichen Umgang mit der Medikation sind psychologischer Natur und können nur im Wege der medizinisch-psychologischen Begutachtung geklärt werden. Im Rahmen einer solchen Begutachtung kann die Antragsgegnerin weitere Punkte thematisieren, die im konkreten Fall des Antragstellers für die Beurteilung der Fahreignung relevant sind. Es dürfte auch im Interesse des Betroffenen sein, die Frage, ob er trotz seiner Erkrankung und der damit zusammenhängenden Dauerbehandlung mit Medizinal-Cannabis in der Lage ist, ein Kraftfahrzeug der Klassen A2 und B sicher zu führen, möglichst im Rahmen einer Begutachtung klären zu lassen.

Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 25.10.2022 – 13 S 1641/22 –.

Entnommen aus der Fundstelle Baden-Württemberg, 9/2023, Rn. 110.