Rechtliches

Berührungsloser Unfall – vollständige Haftung

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Das Oberlandesgericht München (OLG) sprach dem Geschädigten eines Unfalls, bei dem sich die beteiligten Fahrzeuge nicht berührten, den vollständigen Ersatz seiner Schäden zu. Aufgrund einer eklatanten Pflichtverletzung eines Traktorfahrers musste der Geschädigte ein gefährliches Ausweichmanöver vornehmen, das zum Totalschaden seines Fahrzeugs führte.

Im Mai 2014 war ein Traktorfahrer auf einer Landstraße in Bayern unterwegs, als ein Autofahrer ihn auf der linken Spur überholen wollte. Zeitgleich entschied der Traktorfahrer sein Fahrzeug in einen auf der linken Seite gelegenen Feldweg zu lenken. Ein Zusammenstoß mit dem Traktor stand unmittelbar bevor, sodass der Autofahrer mit seinem Fahrzeug ausweichen musste. Er stieß mit einem auf der linken Fahrbahnseite gelegenen Baum zusammen, was zu einem Totalschaden an seinem Fahrzeug führte.

OLG München ändert Urteil ab und spricht Haftung zu

Der Autofahrer klagte gegen den Traktorfahrer und dessen Haftpflichtversicherung auf Erstattung der Unfallschäden. Das Landgericht München (LG) wies die Klage noch ab. Auf die Berufung hin sprach das OLG München nun dem Fahrer den vollständigen Ersatz seiner Schäden zu.1

Grundsätze zur Halterhaftung bei berührungslosen Unfällen

Das Gericht zieht hierzu die Grundsätze des Bundesgerichtshofs (BGH) zur Halterhaftung bei berührungslosen Unfällen heran. Bei dieser besonderen Konstellation stellt sich die Frage, ob bei einer fehlenden Kollision überhaupt eine Haftung des Traktorfahrers in Betracht kommt. Dies sei insbesondere dann zu bejahen, wenn das andere Fahrzeug in einem räumlichen und zeitlichen Zusammenhang zu dem Unfallgeschehen stehe. Die bloße Anwesenheit am Unfallort genüge nicht, der Traktorfahrer müsse vielmehr durch seine Fahrweise oder sonstige Verkehrsbeeinflussung zu der Entstehung des Schadens beigetragen haben.

Korrektur über Mitverschuldensanteile

Korrigiert werde diese weite Haftung durch die Berücksichtigung der individuellen Verschuldensbeiträge nach §§ 9, 17 I, 18 StVG, § 254 BGB. Eine solche Bewertung könne sogar dazu führen, dass dem anderen Verkehrsteilnehmer eine hundertprozentige Haftung auferlegt wird.

Eklatanter Pflichtverstoß des Traktorfahrers

So sei auch dieser Fall im Ergebnis einzuordnen. Im Beweisverfahren stellte das OLG München fest, dass dem Traktorfahrer ein eklatanter Pflichtverstoß anzulasten sei. Anhand des Sachverständigengutachtens könne keine Aussage zur jeweiligen Fahrgeschwindigkeit noch zu den Abständen der Fahrzeuge zueinander getroffen werden. Dennoch könne mit Sicherheit festgestellt werden, dass der Traktorfahrer jedenfalls bei der zweiten Rückschau (dem sog. Schulterblick) das Fahrzeug hätte erkennen müssen. Mehrere informatorische Befragungen des Traktorfahrers bestätigten dieses Ergebnis. Er habe öfter geäußert, dass er sich nicht sicher sei, ob er überhaupt den Schulterblick vorgenommen habe. Zudem habe er angegeben, dass der Traktor nicht über einen Rückspiegel verfüge bzw. dass dieser falsch eingestellt gewesen sei.

1 OLG München, Urteil vom 06.10.2021 – 10 U 1012/19.

Entnommen aus RdW Kurzreport, Heft 8/2022.