Nach Ansicht des Generalanwalts beim Gerichtshof der Europäischen Union ist es nicht möglich, gegenüber Amtsträgern, einschließlich des Ministerpräsidenten, Zwangshaft zu verhängen, um sie zu zwingen, in München Verkehrsverbote für Dieselfahrzeuge einzuführen.
Der Freistaat Bayern weigerte sich, eine Entscheidung eines deutschen Gerichts zu befolgen, mit der er verpflichtet worden war, auf bestimmten Straßen in München, wo die in der Richtlinie über Luftqualität festgelegten Grenzwerte für Stickstoffdioxid seit etlichen Jahren teils erheblich überschritten wurden, Verkehrsverbote für Dieselfahrzeuge vorzusehen. Trotz dieses Urteils lehnte es der Freistaat Bayern ab, diese gerichtlichen Anordnungen umzusetzen.
Der mit dem Rechtsstreit daraufhin befasste Bayerische Verwaltungsgerichtshof stellte fest, dass das einzige im deutschen Recht vorgesehene Zwangsmittel gegenüber der Verwaltung – die Verhängung von Zwangsgeldern – nicht ausreiche, um den Freistaat dazu anzuhalten, der betreffenden Gerichtsentscheidung nachzukommen. Denn die Zahlung eines Zwangsgelds gehe für den Freistaat Bayern nicht mit einer echten Vermögenseinbuße einher, da der zu zahlende Betrag seiner eigenen Staatsoberkasse als Einnahme zufließe.
Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof legte daraufhin dem Gerichtshof der Europäischen Union die europarechtliche Frage vor, ob die den nationalen Gerichten durch das EU-Recht auferlegte Pflicht, alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um die Einhaltung der Luftqualitäts-Richtlinie sicherzustellen, die Pflicht umfassen könne, eine freiheitsentziehende Maßnahme, etwa Zwangshaft, zu verhängen. Das deutsche Recht sehe grundsätzlich die Verhängung von Zwangshaft vor; bei Amtsträgern sei dies aber mangels einer klaren und präzisen gesetzlichen Grundlage nicht möglich.
Der Generalanwalt beim EuGH1 war der Auffassung, dass es nicht möglich sei, gegenüber den zuständigen Amtsträgern, einschließlich des bayerischen Ministerpräsidenten, Zwangshaft zu verhängen, um sie dazu anzuhalten, in München Verkehrsverbote für Dieselfahrzeuge vorzusehen.
Keine eindeutige rechtliche Grundlage
In seinem Schlussantrag wies der Generalanwalt zunächst darauf hin, dass die Weigerung der Amtsträger des Freistaats Bayern, der gerichtlichen Entscheidung nachzukommen, sowohl für die Gesundheit und das Leben der Menschen als auch für die Rechtsstaatlichkeit gravierende Folgen haben könne. Außerdem beeinträchtige eine solche Weigerung das durch die Charta der Grundrechte der EU garantierte Grundrecht des Bürgers auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf. Dem Unionsrecht könne jedoch in der Praxis Grenzen gesetzt sein; dies sei etwa das Grundrecht auf Freiheit, also Schutz vor gesetzloser Zwangshaft. Nur beim Vorliegen einer vorhersehbaren gesetzlichen Regelung dürfe das Freiheitsrecht eines Amtsträgers, auch des Ministerpräsidenten, eingeschränkt werden. Eine solche Regelung existiere in Deutschland in Bezug auf Amtsträger offenbar nicht. Der Generalanwalt kam zu dem Ergebnis, dass die Verhängung von Zwangshaft gegen den Amtsträger des Freistaats – selbst wenn damit das angestrebte Ziel (die Einhaltung der Grenzwerte für die Emission von Stickstoffdioxid) erreicht werden könnte, was keineswegs sicher erscheine – das Grundrecht auf Freiheit verletzen würde, weil es kein entsprechendes Gesetz oder zumindest keine klare und vorhersehbare gesetzliche Regelung gebe. Deshalb dürfe, so schwerwiegend das Verhalten von Amtsträgern, die sich weigerten, eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung umzusetzen, auch sein möge, die Verpflichtung des nationalen Gerichts, alles in seiner Zuständigkeit Liegende zu tun, nicht unter Missachtung des Grundrechts auf Freiheit wahrgenommen werden.
Es sei Sache des nationalen Gesetzgebers, darüber zu befinden, ob er es für wünschenswert halten, eine gesetzliche Regelung zu schaffen, die auch die Zwangshaft für Amtsträger vorsehe.
Anmerkung:
Der Schlussantrag des Generalanwalts ist für den Gerichtshof der Europäischen Union zwar nicht bindend. Denn es ist lediglich Aufgabe des Generalanwalts, dem Gerichtshof in völliger Unabhängigkeit einen Entscheidungsvorschlag für die betreffende Rechtssache zu unterbreiten. Gleichwohl zeigt die Erfahrung, dass das Gericht in den meisten Fällen dem Antrag des Generalanwalts folgen wird.
1 Schlussantrag des Generalanwalts in der Rechtssache C-752/18, besprochen in RdW 2/2020, Rn. 32.
Update:
Aus der Pressemitteilung Nr. 164/19 des Referats Presse und Information des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 19.12.2019:
„[…] Der Gerichtshof hat entschieden, dass […] das zuständige nationale Gericht Zwangshaft gegen die Verantwortlichen des Freistaats Bayern zu verhängen hat, sofern zwei Voraussetzungen erfüllt sind. Zum einen muss es im innerstaatlichen Recht eine hinreichend zugängliche, präzise und in ihrer Anwendung vorhersehbare Rechtsgrundlage für den Erlass einer solchen Maßnahme geben. Zum anderen muss der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet werden. […]“