Das neue Corona-Virus fordert nicht nur das Gesundheitssystem, sondern auch den freiheitlichen Rechtsstaat heraus. Seine Verbreitung soll mit Instrumenten eingedämmt werden, die bislang nie zum Einsatz gekommen sind; damit stellt sich erstmalig die Frage nach der „Verfassungsmäßigkeit einer bundesweiten Pandemiebekämpfung”.
Der status quo res sunt in tempore coronae hat das Zeug, den verfassungsgläubigen Beobachter zu verstören. „In Zeiten von Corona“ gelte es, Geduld zu haben, heißt es gerade häufig. „Wegen des Corona-Virus’“ bzw. „wegen der Pandemie“ könne man sein gewohntes Leben gerade nicht führen, sich u. a. nicht mit Freunden treffen, wird etwa formuliert; dass das gewohnte Leben durch in der Bundesrepublik Deutschland bislang beispiellose, grundrechtseinschränkende Maßnahmen unterbunden blieb und teilweise immer noch bleibt, wird seltener betont. Die Wirtschaft leide „unter Corona“ bzw. „unter der Pandemie“, wird gemeldet; dass sie in Wahrheit unter grundrechtseinschränkenden Maßnahmen, u. a. Betriebsschließungen, leidet, davon ist seltener die Rede. Dasselbe gilt für alle weiteren Auswirkungen des sog. Lockdowns (exemplarisch: „Corona-Folgen: Immer mehr können ihre Miete nicht zahlen“, vgl. LVZ v. 30.04.2020, S. 1). Dabei wäre es nicht nur richtiger, sondern auch zielführender, ursachenbezogen zu formulieren, denn das würde die Debatte versachlichen und auf die Kernfrage danach lenken, ob und welche Corona-Maßnahmen verfassungsrechtlich gerechtfertigt waren bzw. sind; ebendies bedarf, wie die Rechtsprechung früh festgestellt hat, einer fortwährenden Überprüfung (VGH München, BeckRS 2020, 4616, Rn. 25; OVG Münster, BeckRS 2020, 5158, Rn. 63).
Gesetzmäßigkeit?
Verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein kann von vornherein nur ein gesetzmäßiges Vorgehen. Einmal ganz abgesehen davon, ob für sie überhaupt eine Rechtsgrundlage vorhanden und bestimmt genug war, setzten bzw. setzen nicht wenige der Corona-Maßnahmen angesichts ihrer Einschränkungstiefe und -dauer tatbestandlich jedenfalls die Gefahr einer Überlastung des Gesundheitssystems voraus. Richtig ist dabei zwar durchaus, dass die Gefahrendiagnose bzw. -prognose anfangs u. U. auf eine lückenhafte bzw. ungesicherte Datengrundlage gestützt werden darf; dies indessen nur solange, wie es unmöglich ist, eine umfassende und gesicherte Datengrundlage zu den aus gefahrenabwehrrechtlicher Perspektive vornehmlich interessierenden Kriterien zu schaffen, d. h. zu Verbreitungsweise, -geschwindigkeit und -grad eines Krankheitserregers einerseits und zum prozentualen Anteil klinisch schwerer Verläufe bei an ihm Erkrankten andererseits. Ob die Staats- und Landesregierungen, die bei Erlass der Corona-Maßnahmen als Gefahrenabwehrbehörden fungierten, in den Wochen danach ihrer Amtsermittlungspflicht nachgekommen sind, etwa durch Einholen von Sachverständigengutachten in Gestalt von Sonderstudien u. ä., ist aus der Ferne schwer zu beurteilen, darüber werden in der kommenden Zeit die Gerichte entscheiden. Nach der Datengrundlage, die mit dem Verstreichen der Zeit gleichsam von selbst entstand und allgemein zugänglich war (vgl. u. a. auf https://www.rki.de und https://www.divi.de), erschien eine Überlastung des Gesundheitssystems indessen alsbald eher unwahrscheinlich, so dass bereits Mitte April 2020 ein Übergang zum (Krankenhaus-)Regelbetrieb erwogen und schließlich eine zweite (Infektions-)Welle diskutiert wurde: Die maßgeblichen Zahlen, namentlich die Neuinfizierten-, die Infizierten-, die Hospitalisierten-, die Beatmeten- sowie die Basisreproduktionszahl, sie gingen zurück bzw. blieben gering. Dass dies besonders schwerwiegenden Grundrechtseinschränkungen wie etwa Ausgangs- bzw. Kontaktsperren und Betriebsschließungen geschuldet war, steht offenbar mitnichten fest; so weist z. B. ein WHO-Bericht zu möglichen Gesundheitsmaßnahmen im Falle einer Influenzaepidemie bzw. -pandemie aus dem Jahre 2019 im Annex wie selbstverständlich auf eine Studienlage hin, der zufolge die Wirksamkeit solcher Instrumente mit „very low“ bewertet wird, und WHO-Exekutivdirektor Michael Ryan hat das Vorgehen Schwedens, aufgrund dessen die Epidemie auch ohne Einsatz solcher Instrumente abzuklingen scheint, jüngst gar zum „Zukunftsmodell“ erklärt – was u. a. mit der sog. Heinsberg-Studie zusammenstimmt, die belegt, dass eine entscheidende Rolle für schwere Verläufe der Erkrankung die Infektionsdosis spielt, wonach, da eine gänzliche Unterbindung der Verbreitung des Krankheitserregers längst ausgeschlossen erscheint, eine Einhaltung von Hygieneregeln, begleitet von besonderen Schutzmaßnahmen für Risikogruppen, näherläge als ein Lockdown. Auf der anderen Seite wurden für den gesamten Zeitraum täglich zwischen 10 000 und 14 000 freie Intensivbetten mit Beatmungsmöglichkeit gemeldet. Sofern dies für nicht ausreichend erachtet wird, müssen die Kapazitäten schutzpflichtgemäß erhöht werden.
Verhältnismäßigkeit?
Stattdessen wurden zahlreiche Lockdown-Maßnahmen immer wieder verlängert, augenscheinlich um die Fallzahlen so weit abzusenken, bis wieder alle Infektionsketten nachzuverfolgen sind (SZ v. 02./03.05.2020, S. 1); Kontaktsperren z.B. sollen nunmehr bis Anfang Juni 2020 gelten. Dies mit der Begründung, ein erneuter exponentieller Infektionsanstieg könne ja nicht ausgeschlossen werden, und offenbar gemäß der Volksweisheit, der zufolge „sicher eben sicher ist“. Mit einer derart großzügigen (Kapazitäts-)Sicherheitsreserve eine vollständige Eindämmung des Infektionsgeschehens anzustreben, erinnert nun allerdings an das Präventionsparadox, über das Drosten kürzlich mit der britischen Tageszeitung The Guardian gesprochen hat. Das Präventionsparadox, so lässt sich nachlesen, lautet: „Wenn viele Einzelne mit geringem Risiko … eine präventive Maßnahme durchführen, nützt diese der Gesamtpopulation in der Regel viel“, und zwar deshalb, weil „kleine Gruppen mit hohem Risiko“ profitieren (vgl. https://www.enzyklopaedie-dermatologie.de/innere-medizin/praventionsparadox-106626). So richtig dies aus medizinischer Sicht sein mag; das Präventionsparadox für die Staatstheorie und -praxis zum Leitsatz zu erheben, hätte i. E. albtraumhafte Zustände zur Folge, jedenfalls dann, wenn mit „präventiven“ (auch) „grundrechtseinschränkende“ Maßnahmen gemeint sind: Freilich lassen sich mit einem Präventionsrecht, nach dem grundrechtseinschränkende Gefahrenermittlungs- und Gefahrenabwehrmaßnahmen ungehindert auch gegen Nicht-Verdächtige und Nicht-Verantwortliche getroffen werden dürfen, möglicherweise große Erfolge erzielen. Für die Kriminalprävention ließe sich z. B. vorsehen, dass sämtliche Bürgerinnen und Bürger vorsorglich überwacht werden, um so geplante Straftaten entdecken zu können, und dass sämtliche Bürgerinnen und Bürger vorsorglich Kontakt- bzw. Ausgangssperren unterworfen oder gar eingesperrt werden, um so die Ausführung von Straftaten verhindern zu können. Verwirklicht würde damit indessen ein Polizeistaat konsequentester Ausprägung, der mit dem tradierten und ins Grundgesetz rezipierten freiheitlichen Rechtstaat nur noch insofern etwas zu tun hat, als dass er sein abschreckender Gegenentwurf gewesen ist. Für die Krankheitsprävention ließe sich an vorsorglich erzwungene Impfungen und vorsorglich verhängte Kontakt- und Ausgangssperren denken, um das Auftreten bzw. Anhalten eines jeden Infektionsgeschehens auszuschließen; oder wieder ganz konsequent: wirkliche Sicherheit vor Krankheitserregern bieten kleine, wie Isolierstationen gegen das Eindringen von Viren und Bakterien abgedichtete Gefängniszellen. Kennzeichnend wäre solches für einen Gesundheitspolizeistaat schlimmster Vorstellung. Auch sonst könnte aus fachlicher Sicht übrigens Vieles zu maximalen Erfolgen führen. Aus medizinischer Sicht hilfreich wäre es z. B. weiter, Tabak- und Alkoholkonsum, zu fett- bzw. zu zuckerreiche Ernährung, Bewegungsmangel, aber auch Führen von Kfz gänzlich zu unterbinden usw. Aus ökologischer Sicht wäre es maximal erfolgreich, sämtliche (Treibhausgas-)Emissionsquellen sofort stillzulegen. Die Schulden des Staates ließen sich durch umfassende Enteignungen bzw. Steuererhebungen von heute auf morgen beseitigen usw. Abgesehen davon, dass solches bislang nicht gesetzmäßig wäre, ist man sich hier (richtigerweise) schnell darüber einig, dass es eine Vielzahl verfassungsrechtlicher Positionen gibt, die in einen ausgewogenen Ausgleich gebracht werden müssen. Gilt das auch für Infektionsschutzmaßnahmen? Geht es hier um Erzielung maximaler Erfolge aus fachlicher, aber eben einseitiger Perspektive, oder geht es um Verhältnismäßigkeit? Es darf auch hier nur um Letzteres gehen; und so betrachtet erscheint für zahlreiche Corona-Maßnahmen bereits deren Erforderlichkeit (vgl. oben), bei fehlender Wahrscheinlichkeit einer Überlastung des Gesundheitssystems aber jedenfalls deren Angemessenheit äußerst zweifelhaft: Richtig ist zwar sicherlich, dass dem Leben und der Gesundheit ein hohes Gewicht zukommt. Dennoch ist es doch aber erstens so, dass zahlreiche Lockdown-Maßnahmen – und damit ein staatliches Tätigwerden, und nicht etwa nur ein staatliches Untätigbleiben – sich ebenfalls in vielfältiger Hinsicht abträglich auf Leben und Gesundheit auswirken. Zweitens folgt aus dem hohen Gewicht von Leben und Gesundheit doch nicht, dass ihr Schutz mithilfe risikoausschließender Maßnahmen betrieben werden darf, durch die andere, vielleicht weniger gewichtige Grundrechte aufs Schwerwiegendste eingeschränkt und damit marginalisiert werden; das gilt desto mehr, je lückenhafter und unsicherer die Datengrundlage ist. Und drittens gilt es im Auge zu behalten, dass es zwar sicher erlaubt ist, von gesunden Bürgerinnen und Bürgern Solidarität einzufordern, ebenso sicher aber (absolut) verboten, sie zwangsweise für den Gesundheitsschutz anderer zu instrumentalisieren – und zwar ihrer Menschenwürde wegen.
Fazit
Die Verfassungsmäßigkeit einer ganzen Reihe von Corona-Maßnahmen erschien bzw. erscheint mit einem Fortschreiten der Zeit immer fragwürdiger. Besonders bedenklich wäre ein gefahrenabwehrrechtliches Aufgreifen medizinischer Dogmen wie etwa des Präventionsparadox’ für Grundrechtseinschränkungen; damit würde die Axt an Wesenselemente des Grundgesetzes gelegt, namentlich an seinen freiheitlichen-rechtsstaatlichen Charakter, ja selbst an seinen Höchstwert, die Menschenwürde.
Der Beitrag gibt die persönliche Meinung des Autors wieder.
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