Dieser Beitrag wertet den aktuellen Verfassungsschutzbericht des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) für das Jahr 2020 aus und stellt aktuelle Akteure und Trends im deutschen Extremismus dar.
Rechtsextremismus
Der Verfassungsschutzbericht aus dem Juni 2021 stellt für das Jahr 2020 23.604 rechtsextremistische Straftaten fest, gegenüber noch 22.342 Straftaten im Jahr 2019. Von den 23.604 von Rechtsextremisten verübten Straftaten waren 13.659 Propagandadelikte nach §§ 86, 86a StGB und 1.092 (im Jahr 2019 noch 986) Gewalttaten. Damit stieg die Zahl der Gewalttaten im Vergleich zum Jahr 2019 um über 10 %. Dazu gehört der rechtsterroristische Anschlag in Hanau.
Körperverletzungsdelikte bildeten im Jahr 2020 die überwiegende Anzahl der Gewaltdelikte. Mit 82,3 % (842 Körperverletzungen) an der Gesamtzahl der Gewalttaten bewegt sich diese Zahl prozentual auf dem Niveau des Vorjahres. Bei Brandstiftungsdelikten wiederum wurde im Jahr 2020 ein deutlicher Anstieg verzeichnet. Mit 25 Brandstiftungen stieg diese Zahl um über 300 %. Bei rechtsextremistisch motivierten Körperverletzungsdelikten mit einem fremdenfeindlichen Hintergrund war ein Anstieg um 10 % festzustellen. Die Gesamtzahl der fremdenfeindlichen Gewalttaten stieg ebenfalls an, um 7,3 %. Antisemitische Straftaten von Rechtsextremisten in Deutschland steigen seit Jahren an, im Jahr 2020 im Vergleich zum Vorjahr um 17,8 % (von 1.844 auf 2.173).
Die Zahl der Rechtsextremisten in Deutschland stieg von 25.350 im Jahr 2018 auf 33.430 im Jahr 2019 auf 34.750 im Jahr 2020. Davon stufen die deutschen Sicherheitsbehörden aktuell 13.300 als gewaltorientiert ein.
Aktuelle Akteure des Rechtsextremismus in Deutschland sind nach Angaben des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) im Parteienspektrum die NPD, „die Rechte“, „der III. Weg“ und „der Flügel“ der AfD. Weitere rechtsextremistische Akteure sind im Bereich der Neuen Rechten angesiedelt, hierbei die Identitäre Bewegung, das COMPACT-Magazin (Verdachtsfall), „Ein Prozent“ und das „Institut für Staatspolitik“. Daneben Kameradschaften, Vereine und subkulturell geprägte Rechtsextremisten.
Im Jahr 2020 verbot der Bundesminister des Innern, Horst Seehofer, drei rechtsextremistische Vereine, „Combat 18 Deutschland“, „Nordadler“ und „Sturm-/Wolfsbrigade 44“.
Die Coronapandemie und die staatlichen Gegenmaßnahmen fanden nach Angaben des BfV in der rechtsextremistischen Szene im Jahr 2020 eine sehr große Beachtung und wurde vielfach aufgegriffen, dabei verbreiteten deutsche Rechtsextremisten fremdenfeindliche und verschwörungstheoretische Inhalte und versuchten Ängste und Unruhe innerhalb der Bevölkerung zu schüren. Im Kontext der Coronapandemie verbreiteten Rechtsextremisten unterschiedliche „verschwörungstheoretische“ Narrative. Neben Behauptungen, eine „jüdische Elite“ habe das Virus künstlich geschaffen und die Pandemie bewusst hervorgerufen, fanden sich zahlreiche Stimmen, die behaupteten, die Bundesregierung nutze die Krise aus, um Mechanismen für die Überwachung der Bevölkerung zu installieren.
Bedrohung für die Innere Sicherheit
Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus stellen im Augenblick und prognostisch für viele Jahre eine wesentliche Bedrohung für die Innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland dar. Aktuelle Belege dafür sind die beiden rechtsterroristischen Anschläge in Halle und Hanau, das rechtsterroristische Attentat auf Walter Lübcke sowie die rassistisch motivierten Morde der rechtsterroristischen Gruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU), die rechtsterroristischen Anschläge von Frank S. auf die damalige Kölner Oberbürgermeisterkandidatin Henriette Reker, von David Sonboly am Olympia-Einkaufszentrum in München, von Stephan Ernst auf den Politiker Walter Lübcke oder der rechtsterroristische Mordversuch von Roland K. am eritreischen Flüchtling Bilal M.
Neben diesen rechtsterroristisch motivierten Anschlägen, Attentaten und Morden müssen auch die zahlreichen rechtsextremistisch-rechtsterroristischen Organisationen bzw. Gruppen, wie „Weisse Wölfe Terrorcrew“ (WWT), „Oldschool Society“ (OSS), „Nordadler“, „Kameradschaft Aryans“, „Gruppe Freital“, „Revolution Chemnitz“, „Combat 18“, Gruppe „Nordkreuz“ sowie „Gruppe S“, der jüngeren Vergangenheit erwähnt werden.
Weitere staatsfeindliche Gruppierungen
„Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ werden vom BfV als Gruppierungen und Einzelpersonen beschrieben, die aus unterschiedlichen Motiven und mit unterschiedlichen Begründungen – unter anderem unter Berufung auf das historische Deutsche Reich, verschwörungstheoretische Argumentationsmuster oder ein selbst definiertes Naturrecht – die Existenz der Bundesrepublik Deutschland und deren Rechtssystem ablehnen, den demokratisch gewählten Repräsentanten die Legitimation absprechen oder sich gar in Gänze als außerhalb der Rechtsordnung stehend definieren.
Trotz ihrer heterogenen Ideologieelemente wird diese Szene von den deutschen Sicherheitsbehörden als staatsfeindlich eingestuft. Das Personenpotenzial stieg im letzten Jahr von 19.000 auf 20.000, ca. 1.000 Personen davon werden als rechtsextremistisch eingestuft. Von diesen 20.000 Personen werden ca. 2.000 als gewaltorientiert beziffert. Die Szene der „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ besteht zu etwa drei Vierteln aus Männern. Die meisten „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ sind zwischen 40 und 60 Jahre alt.
Die „Querdenker“-Szene ist seit dem Frühjahr 2020 wesentlicher Bestandteil der Corona-Demonstrationen und verschiedene Landesämter für Verfassungsschutz (Baden-Württemberg, Bayern und Hamburg) erhoben ihre Organisationsstrukturen – nicht die breite Mehrheit der Teilnehmer ihrer Corona-Demonstrationen – seit dem Dezember 2020 zum Beobachtungsobjekt Extremismus, das Bundesamt für Verfassungsschutz für das gesamte Bundesgebiet am 28.4.2021. Das Bundesamt für Verfassungsschutz geht von einem neuen Phänomenbereich Extremismus aus (Delegitimierung von Staatlichkeit), allerdings stellen verschiedene Verfassungsschutzbehörden fest, dass es personelle Überschneidungen innerhalb der „Querdenker“-Szene zu Rechtsextremisten sowie „Reichsbürgern“ und „Selbstverwaltern“ gibt.
Islamistischer Terrorismus
In den Monaten vor den vier islamistischen Anschlägen im Herbst 2020, in Dresden (Anschlag eines syrischen Flüchtlings auf zwei homosexuelle Touristen), bei Paris (Enthauptung eines Lehrers), in Nizza (in einer Kirche) sowie in Wien, hatten die Medien kaum noch über Islamismus und islamistischen Terrorismus in Europa berichtet, auch auf der politischen Agenda war das Thema kaum noch. Durch die vier islamistischen Anschläge im Herbst 2020 wurden neun Menschen getötet und über 30 weitere – teilweise schwer – verletzt. Ein weiteres Indiz für ein in den letzten Monaten konstant hohes Bedrohungspotenzial durch islamistische Terroristen in Europa waren und sind mindestens 92 verübte bzw. durch die Sicherheitsbehörden verhinderte Anschläge. Durch die seit 2004 in Europa verübten Anschläge wurden 800 Menschen getötet und über 3765 verletzt. Im Zeitraum 2000 bis 2020 haben Polizei- und Verfassungsschutzbehörden in Europa über 40 islamistische Anschläge (!!) verhindert.
Aktuell zählen die deutschen Sicherheitsbehörden 28.020 Islamisten in Deutschland, darunter u.a. die Hizb Allah, Muslimbruderschaft, Millî Görüş und die Furkan Gemeinschaft. Das salafistische Personenpotenzial stieg in den letzten Jahren von 3.800 auf 12.150.
Linksextremismus
Die deutschen Sicherheitsbehörden stellten im Jahr 2020 10.971 Straftaten von Linksextremisten fest, davon 1.526 Gewalttaten. Die Zahl der linksextremistisch motivierten Straftaten stieg damit um 2,8 %, die Zahl der Gewalttaten um 34,3 %. Von den linksextremistisch motivierten Gewalttaten wurden 776 Fälle in das Themenfeld „Gewalttaten gegen die Polizei/Sicherheitsbehörden“ eingeordnet, was einem Anstieg um knapp zwei Drittel entspricht. Die Zahl der Gewalttaten gegen Rechtsextremisten oder vermeintliche Rechtsextremisten hat sich auf insgesamt 340 Delikte erhöht, wohingegen die Zahl der Gewalttaten gegen den Staat, seine Einrichtungen und Symbole erneut stark um 76,9 % auf 681 anstieg. Die Zahl der linksextremistisch motivierten Gewalttaten gegen die Polizei und Sicherheitsbehörden ist gegenüber dem Jahr 2019 um 66,2 % angestiegen. Zu diesen Taten gehörten auch drei versuchte Tötungsdelikte gegen Angehörige der Polizei.
Die Zahl von Linksextremisten in Deutschland stieg von 33.000 im Jahr 2018 auf 34.500 im Jahr 2019 auf 35.400 im Jahr 2020. Von diesen 35.400 Linksextremisten stufen die deutschen Sicherheitsbehörden aktuell 9.600 als gewaltorientiert ein.
Gewalt stellt für Teile der linksextremen Szene in Deutschland nach Angaben der Verfassungsschutzbehörden „einen elementaren Bestandteil ihrer politischen Agitation“ dar. So begehen Linksextremisten in ihrer Überzeugung, der „repressiven Gewalt“ des „kapitalistischen Systems“ selbst „revolutionäre Gewalt“ entgegenbringen zu müssen, zahlreiche schwere Gewaltstraftaten. Neben Sachbeschädigungen und Brandstiftungen stellt das Bundesamt für Verfassungsschutz vor allem in der direkten Auseinandersetzung von Linksextremisten mit Polizisten und politischen Gegnern fest, dass die Hemmschwelle der linksextremistischen Gewalttäter kontinuierlich sinkt. So würden mittlerweile schwere Gesundheitsschädigungen und in Einzelfällen auch der Tod von Menschen billigend in Kauf genommen, was ein linksterroristisches Potenzial darstelle.
Die Internetplattform de.indymedia.org kann strategisch und inhaltlich analysiert als die Nachfolgerin der im Sommer 2017 verbotenen linksunten.indymedia.org bewertet werden. De.indymedia.org stärkt die überregionale und internationale Verbreitung von linksextremistischen Inhalten, darunter Selbstbezichtigungen nach Gewalttaten und Straftaten sowie eine Vernetzung in der linksextremistischen Szene.
Ausländerextremismus
Das BfV analysiert, dass nicht-islamistische ausländerextremistische Organisationen überwiegend aus politischen, sozialen oder ethnischen Konflikten in den jeweiligen Heimatländern hervorgegangen seien. Hauptziel der in Deutschland vertretenen Organisationen ist die Unterstützung der jeweiligen „Mutterorganisationen“ in den Herkunftsländern. Das Personenpotenzial von Ausländerextremisten in Deutschland betrug im Jahr 2020 28.650. Die größten Personenpotenziale in diesem Phänomenbereich haben die PKK mit aktuell ca. 14.500, türkische Rechtsextremisten mit ca. 11.000 sowie türkische Linksextremisten mit ca. 2.550.
Rechtsextremistische Organisationen mit Bezug ins Ausland sind nach Angaben des BfV stark nationalistisch geprägt und messen der eigenen Volksgruppe einen höheren Stellenwert zu als anderen Ethnien. Ihrer rechtsextremistischen Ideologie liegt ein übersteigertes Nationalbewusstsein zugrunde. Das Menschenbild solcher Gruppierungen ist stark von rassistischem Gedankengut beeinflusst. Der einflussreichste Akteur in diesem Spektrum in Deutschland ist in der Analyse der deutschen Verfassungsschutzbehörden vor allem die rechtsextremistische türkische „Ülkücü“-Bewegung, die in der Mitte des 20. Jahrhunderts in der Türkei entstanden ist. Das Ziel der „Ülkücü“-Bewegung ist nach Angaben des BfV „der Schutz des Türkentums“ sowie die Errichtung von „Turan“, einem ethnisch homogenen Staat unter Führung der Türken, der die Siedlungsgebiete der Turkvölker umfasst und – je nach ideologischer Lesart – vom Balkan bis nach Westchina oder sogar bis Japan reicht. Die „Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Deutschland e. V.“ (ADÜTDF) ist der größte „Ülkücü“-Dachverband in Deutschland.
Die PKK unterliegt in Deutschland seit 1993 einem Betätigungsverbot. Seit 2002 wird sie zudem auf der EU-Terrorliste geführt. Die PKK nutzt Deutschland nach Einschätzung der deutschen Verfassungsschutzbehörden vor allem für die Durchführung von Großveranstaltungen (Propaganda in eigener Sache, Rekrutierung neuer Anhänger), für die logistische und finanzielle Unterstützung der Gesamtorganisation, bei aktuellen Entwicklungen/Ereignissen im Kurdenkonflikt für anlassbezogene Demonstrationen und Solidaritätskundgebungen, sowie für Versuche der Einflussnahme auf die deutsche Politik. Zu den zentralen Forderungen der PKK gehören die Anerkennung der kurdischen Identität sowie eine politische und kulturelle Autonomie der Kurden unter Aufrechterhaltung nationaler Grenzen in ihren türkischen und syrischen Siedlungsgebieten.
Fazit
Die Freiheitliche demokratische Grundordnung und die Innere Sicherheit Deutschlands sind aktuell – wie selten zuvor – durch alle Phänomenbereiche von Extremismus besonders bedroht.
Quellen:
- Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat: Verfassungsschutzbericht 2020. 15. Juni 2021; https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/publikationen/DE/2021/verfassungsschutzbericht-2020.html (zuletzt abgerufen am 22.6.2021).
- Goertz, Stefan: Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus in Deutschland. 7. Juni 2021. Verlag Deutsche Polizeiliteratur.
- Goertz, Stefan: Politisch motivierte Kriminalität. Radikalisierung und Extremismus. 2. Auflage. 3. Juni 2021. Verlag C.F. Müller/Kriminalistik.