Rechtliches

Keine Opferentschädigung, wenn das Opfer selbst eine aggressive Reaktion verursacht hat

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Nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) erhält, wer durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung. Die Leistungen sind aber zu versagen, wenn der Geschädigte die Schädigung selbst verursacht hat. Dies hat das Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) entschieden.

Die Frau hatte schon länger Streit mit ihrem Ehemann

Zugrunde lag der Fall einer 1961 geborenen, schwerbehinderten Frau, die im Mai 2019 beim Land Baden-Württemberg die Gewährung von Leistungen nach dem OEG beantragte. Sie machte geltend, bereits seit August 1998 psychischen Stress mit ihrem Ehemann zu haben. Am 16.01.2017 sei die Situation zu Hause völlig eskaliert. Sie habe ihren Mann an diesem Tag wieder damit konfrontiert, dass er psychisch sehr krank sei. Dann sei er aggressiv geworden, habe sie angeschrien und sie beschimpft.

Ihr Mann habe sie dann dreimal umgestoßen, wodurch sie glücklicherweise nicht verletzt worden sei. Vor diesem körperlichen Angriff habe sie bereits ein zwanzigjähriges Martyrium durch ihren Ehemann erlebt. Dieses sei gekennzeichnet gewesen durch Erniedrigungen, Beschimpfungen und Aggressivität. Der Angriff vom Januar 2017 sei der Gipfel der erlebten Gewalt gewesen. Kurz darauf habe sie fluchtartig die gemeinsame Wohnung verlassen und sei seitdem nicht mehr dorthin zurückgekehrt. Seit August 2017 sei sie krankgeschrieben.

Staatsanwaltschaft wurde eingeschaltet

Die Frau erstattete im Zusammenhang am 30.01.2017 Strafanzeige gegen ihren Ehemann. Dieser gab bei der Staatsanwaltschaft an, bereits im Sommer 2016 seiner Frau mitgeteilt zu haben, dass er sich von ihr trennen wolle. Im Dezember 2016 habe er sie gebeten, sich eine eigene Wohnung zu suchen und aus der Wohnung auszuziehen. Im Januar 2017 habe sie sein Schlafzimmer als Rückzugsraum nicht akzeptiert, sondern mit ihm diskutieren wollen. Sie habe ihn auf sein Bett geschubst und sein Zimmer auch auf sein Bitten hin nicht verlassen. Um sich gegen die weiteren Attacken zu wehren, habe er sie vor sich hergeschoben, um sie so aus seinem Schlafzimmer zu entfernen. Hierbei sei sie hingefallen. Er habe sich lediglich gegen die Nötigung durch seine Ehefrau verteidigt.

Ermittlungsverfahren gegen den Ehemann wurde eingestellt

Die Staatsanwaltschaft stellte das Ermittlungsverfahren ein, weil sich aufgrund der sich widersprechenden Angaben der Beteiligten nicht feststellen lasse, wie sich der Vorfall vom 16.01.2017 tatsächlich zugetragen habe. Es stehe letztlich Aussage gegen Aussage.

Das Land lehnte den Antrag auf eine Beschädigtenrente ab

Das Land lehnte eine Beschädigtenversorgung ab und stützte dies auf das Ermittlungsergebnis der Staatsanwaltschaft. Das LSG bestätigte dies. Rechtsgrundlage für den Anspruch ist § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG i. V. m. § 9 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 1, § 30, § 31 Bundesversorgungsgesetz (BVG). Danach erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung, wer infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Die Versorgung umfasst nach § 9 Abs. 1 Nr. 3 BVG die Beschädigtenrente. Nach § 30 Abs. 1 Satz 1 BVG ist der Grad der Schädigung (GdS) nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, welche durch die als Schädigungsfolge anerkannten körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereichen zu beurteilen. Der GdS ist nach Zehnergraden von 10 bis 100 zu bemessen (§ 30 Abs. 1 Satz 2 BVG). Beschädigte erhalten gem. § 31 Abs. 1 BVG eine monatliche Grundrente ab einem GdS von 30. Liegt der GdS unter 25, besteht kein Anspruch auf eine Rentenentschädigung.

Die Opferentschädigung erfordert u. a. einen tätlichen Angriff

Ein Versorgungsanspruch setzt zunächst voraus, dass die allgemeinen Tatbestandsmerkmale des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG gegeben sind. Danach erhält eine natürliche Person („wer“), die im Geltungsbereich des OEG durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Somit besteht der Tatbestand aus drei Gliedern (tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen), die durch einen Ursachenzusammenhang miteinander verbunden sind.

Der Angriffsbegriff setzt eine körperliche Einwirkung voraus

Bei der Auslegung des Rechtsbegriffs „vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff“ ist entscheidend auf die Rechtsfeindlichkeit, vor allem verstanden als Feindlichkeit gegen das Strafgesetz, abzustellen. Generell ist davon auszugehen, dass als tätlicher Angriff grundsätzlich eine in feindseliger oder rechtsfeindlicher Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung anzusehen ist. Die bloße Drohung mit einer – wenn auch erheblichen – Gewaltanwendung oder Schädigung reicht hierfür demgegenüber nicht aus.

Das Gericht zog die Unterlagen der Staatsanwaltschaft heran

Schon nach dem eigenen Vorbringen der Frau ist es erwiesen, dass es bei dem Ereignis am 16.01.2017 zu keinem Gesundheitserstschaden gekommen ist, der einen Anspruch auf Beschädigtenversorgung begründen könnte. Daneben ist aber auch ein rechtswidriger tätlicher Angriff nicht glaubhaft gemacht. Den Angaben des Ehemannes aus der Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft, die das Gericht im Wege des Urkundsbeweises verwerten kann, ist zu entnehmen, dass es die Frau gewesen ist, die mit ihrem Mann diskutieren wollte und nicht zu akzeptieren bereit war, dass dieser keinen Wert auf ein Gespräch mit ihr legte.

Die Schilderungen des Ehemannes, dass er seine Frau bereits Anfang Dezember 2016 – nach einer wohl im Sommer 2016 gescheiterten Paartherapie – gebeten hat, sich eine eigene Wohnung zu suchen, und sie so lange in seinem Haus weiter wohnen durfte, korrespondieren mit den Darlegungen der Frau in ihrer Geschädigtenvernehmung. Gegen einen rechtswidrigen Angriff des Ehemannes spricht auch, dass sie nicht unmittelbar polizeiliche Hilfe in Anspruch genommen, sondern mit der Anzeige gut zwei Wochen gewartet hat.

Von der Frau wäre zu erwarten gewesen, dass sie sich der Situation entzieht

Darüber hinaus spricht einiges dafür, dass ein Anspruch auf Beschädigtenversorgung gem. § 2 Abs. 1 OEG ausgeschlossen ist. Nach dieser Vorschrift sind Leistungen zu versagen, wenn der Geschädigte – die Schädigung entweder selbst verursacht hat (1. Alt.) oder – wenn es aus sonstigen, v. a. aus in dem eigenen Verhalten des Anspruchstellers liegenden Gründen unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren (2. Alt.). Die Ehefrau hat offenbar die wesentliche Ursache für die aggressive Reaktion des Ehemanns selbst gesetzt, indem sie ihn zu einem Gespräch über seine vermeintliche psychische Krankheit anhalten wollte, woraufhin dieser aggressiv wurde.

Wenn ihr bewusst war, dass ihr Ehemann psychisch krank ist, und er bereits beschlossen hatte, sich von ihr zu trennen, musste sie mit einer solchen Reaktion rechnen. Sie wäre jedenfalls gehalten gewesen, sich der Situation sofort zu entziehen, als sie merkte, dass der Ehemann aggressiv auf ihr Ansinnen reagiert. Ihr Verhalten hat somit jedenfalls eine Selbstgefährdung dargestellt, die eine Opferentschädigung unbillig erscheinen lässt.

Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 15.09.2022 – L 6 VG 1148/22.

 

Entnommen aus der Fundstelle Baden-Württemberg, 5/2023, Rn. 64.