Organisations- und Führungskonzepte

Anspruch auf polizeirechtlichen nächtlichen Lärmschutz

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Die Antragsgegnerin – Landeshauptstadt Dresden – wurde im Wege einer einstweiligen Anordnung verpflichtet, die Antragsteller wegen ihres Begehrens auf Ergreifen geeigneter polizeilicher Maßnahmen zur Lärmreduktion im Kreuzungsbereich L.-Straße und G. Straße während bestimmter Nachtruhezeiten zu bescheiden.

Sachverhalt

Der Sachverhalt ergibt sich aus den Gründen.

GG – Art. 2 Abs. 2 Satz 1

1. Kommunale polizeirechtliche Verordnungen zum Schutz der Nachtruhe weisen drittschützenden Charakter auf.

2. Der staatlichen Pflicht zum Schutz vor Gesundheitsgefahren entspricht ein individueller Schutzanspruch.

3. Zum Aufgabenverständnis kommunaler Ordnungsdienstkräfte und Polizeivollzugsdienst.

Sächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschl. v. 25.07.2022 – 6 B 16/22

Aus den Gründen

Unmittelbares Ziel ist nicht der Erlass eines bestimmten Verwaltungsakts, sondern die Durchführung einer Vielzahl von dem Auswahlermessen der Antragsgegnerin überlassener tatsächlicher Maßnahmen, um im streitgegenständlichen Kreuzungsbereich die in der Antragsbegründung zitierten Verbote der Polizeiverordnung, die (Nacht-)Ruhe anderer mehr als unvermeidbar zu stören (§ 3 Abs. 1 PolVO), akustische Geräte und Musikinstrumente so zu benutzen, dass andere unzumutbar belästigt werden (§ 4 Abs. 1 PolVO) und im öffentlichen Bereich zu lagern, andere durch Lärm, Aufdringlichkeit, trunkenheits- oder rauschbedingtes Verhalten unzumutbar zu belästigen oder zu behindern (§ 12 Buchst. a und d PolVO), durchzusetzen.

Diese Verbote haben, soweit sie andere in ihrer Ruhe und zumindest auch vor Lärm schützen sollen, drittschützenden Charakter, auf den sich die Antragsteller als Anwohner berufen können.

Darüber hinaus ergibt die Auslegung des Antrags unter Heranziehung der Antragsbegründung, die u. a. als geeignete normative Maßnahme auch den Erlass von Alkoholabgabe- und Alkoholkonsumverboten mittels Polizeiverordnung benennt, dass der Antrag auch sonstige polizeiliche Maßnahmen zur Lärmreduktion bis zur Sicherstellung der Einhaltung von 62 dB(A) an den Wohnungen der Antragsteller umfasst, allerdings nicht über das Klageziel hinausgehen soll, das sich ausdrücklich „nicht auf eine nächtliche Sperrung der Kreuzung (oder auf längere Sperrzeiten für Gaststätten), sondern darauf [richtet], dass die Beklagte ausschließlich gegen diejenigen Platzbenutzer, die zu einem unzumutbaren Lärmpegel wesentlich beitragen und dabei Ordnungswidrigkeiten begehen, wirkungsvoll einschreitet“.

Insoweit kann den Antragstellern auch ein Anspruch unmittelbar aus dem Grundrecht auf Schutz der Gesundheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zustehen.

Dies zugrunde gelegt haben die Antragsteller bei summarischer Prüfung einen Anordnungsanspruch insoweit nicht im Sinne überwiegender Erfolgsaussichten glaubhaft gemacht, als der Antrag auf Erreichung eines bestimmten Immissionswerts und auf eine strikte Verpflichtung der Antragsgegnerin zum Ergreifen von weiteren in ihr Auswahlermessen gestellten Maßnahmen abzielt.

Den Antragstellern dürfte nur ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung zustehen. Insoweit ist auch ein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.

(…)

Handlungsmöglichkeiten noch nicht ausgeschöpft

Die Entscheidung der Antragsgegnerin, weitere Maßnahmen zur Durchsetzung der auch der Nachtruhe der Antragsteller dienenden Verbote der Polizeiverordnung nicht zu ergreifen, erweist sich als ermessensfehlerhaft. Der Entscheidung liegen in tatsächlicher und/oder rechtlicher Hinsicht teilweise unzutreffende Annahmen zugrunde, die dazu führen, dass die Antragsgegnerin die ihr zu Gebote stehenden Handlungsmöglichkeiten nicht vollständig erkannt und erwogen hat.

Die Antragsgegnerin geht davon aus, dass sie keine wirkungsvolle und rechtlich zweifelsfreie Handhabe habe, wenn die Ordnungsstörung nicht lediglich von einzelnen Störern durch exzessive Geräusche (Grölen, Trommeln, Musikboxen) verursacht werde, sondern aus der dauerhaften Überschreitung von Lärmwerten durch eine Menschenansammlung resultiere, bei der der Gesamtlärm keinen Einzelpersonen zugerechnet werden könne. Auch bestehe ab einer bestimmten Menschenmenge keine Möglichkeit mehr, zwischen Störern und Nichtstörern zu unterscheiden.

Daran ist richtig, dass die Auffassung vertreten wird, dass Einzelpersonen, deren Verhalten sich im Rahmen zulässigen kommunikativen Gemeingebrauchs hält und erst in der Summe des Kollektivs Lärm erzeugt, bei wertender Betrachtungsweise polizeirechtlich weder als Störer in Anspruch genommen werden können, weil und soweit ihr Mitverursachungsbeitrag jeweils für sich genommen erlaubt ist, noch gegen sie als Nichtstörer vorgegangen werden kann. Selbst wenn man dieser Auffassung folgt, gilt dies jedoch nur unter der Voraussetzung, dass ihnen der kollektiv verursachte Lärm nicht anderweit normativ zugerechnet wird.

Mögliche Erweiterung der Polizeiverordnung

Den Erwägungen der Antragsgegnerin ist nicht zu entnehmen, dass sie die Möglichkeit erkannt und geprüft hat, die Lärmschutzbestimmungen der Polizeiverordnung um eine Regelung zu erweitern, die einzelnen Personen die Verhaltenspflicht auferlegt, sich aus einer Menschenansammlung zu entfernen oder sich von ihr fernzuhalten, wenn und solange von ihr unzumutbarer Lärm während der Nachtruhezeiten ausgeht. Jeder, der entgegen dieser Pflicht in der Menschenansammlung verbleibt und damit rechtswidrig handelt, könnte sodann als Verhaltensstörer nach § 14 Abs. 1 SächsPBG in Anspruch genommen werden.

Es erscheint auch nicht ausgeschlossen, dass die Antragsgegnerin bei Schaffung einer derartigen Zurechnungsnorm zu einer anderen Abwägung gelangen würde als der Polizeivollzugsdienst des Beigeladenen, der es ihrer Darstellung nach bislang als unverhältnismäßig ablehnt, zur Abwendung potenzieller Dauergesundheitsgefahren unmittelbaren Zwang gegen Personen anzuwenden, die erst in der Masse erheblichen Grundlärm erzeugen.

Denn soweit nicht andere gewichtige Belange, wie sonstige Aufgaben der Gefahrenabwehr, die Polizeibehörde von einem Einschreiten nach pflichtgemäßem Ermessen absehen lassen können, kann jedenfalls in der Abwägung mit dem grundrechtlich geschützten Interesse der Antragsteller an der Abwehr gesundheitsgefährdender Störungen ihrer Nachtruhe dem entgegenstehenden Interesse von Verhaltensstörern kein höheres Gewicht eingeräumt werden.

(…)

Bisheriges Schutzkonzept

Die irrige Annahme, es liege trotz Blockade und sachfremder Verwendung des Platzes zu einem Großteil zulässiger Gemeingebrauch vor, kann für das Abwägungsergebnis auch von Bedeutung und der Grund dafür sein, dass das Schutzkonzept der Antragsgegnerin bislang keine nur zu einem früheren Zeitpunkt vor Anwachsen der Menschenmenge noch erfolgversprechende Strategie zur Unterbindung des rechtswidrigen Verhaltens durch Lagern und unzulässige Sondernutzung erfasst.

Soweit erkennbar scheint das Konzept in der Zusammenarbeit mit dem Polizeivollzugsdienst darauf ausgerichtet, dass der Gemeindevollzugsdienst der Antragsgegnerin versucht, bei Verstößen gegen § 3 Abs. 1 und § 4 Abs. 1 PolVO gegen einzelne Verursacher ruhestörenden Lärms mittels Ansprachen oder Platzverweisen vorzugehen und ggf. auf deren Durchsetzung mittels mündlicher Vollzugshilfeersuchen an den Polizeivollzugsdienst hinzuwirken, während dieser den Schwerpunkt neben der Bekämpfung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten auf die Freihaltung der Fahrbahn für den Schienenverkehr legt.

Ob das Konzept überhaupt kommunikative Ansprachen und ggf. Platzverweise und deren Durchsetzung zur Abwehr von Störungen der öffentlichen Sicherheit durch Verstöße gegen § 52 Abs. 1 Nr. 3 SächsStrG bei unzulässiger Sondernutzung der Gehwege und des Straßenrands enthält, bleibt unklar.

Vollzugshilfeersuchen

Unzutreffend wäre es auch, sollte die Antragsgegnerin, die wiederholt eine „vorrangige“ Zuständigkeit des Polizeivollzugsdiensts anspricht, damit mehr als dessen Zuständigkeit bei Gefahr im Verzug (§ 3 SächsPVDG) meinen. Unbeschadet vieler paralleler Eingriffsbefugnisse ist die Antragsgegnerin als Kreispolizeibehörde für die präventive Gefahrenabwehr, insbesondere auch die Abwehr von Dauergefahren und sich wiederholenden Gefahren, nach § 1 Abs. 1 Nr. 3, § 2 Abs. 1 SächsPBG primär und der Polizeivollzugsdienst nach § 2 Abs. 3 SächsPVDG nur subsidiär zuständig.

Hat die Kreispolizeibehörde, wie die Antragsgegnerin, einen eigenen Vollzugsdienst eingerichtet und verfügt dieser nicht über ausreichende eigene Vollzugskräfte oder stehen diesen rechtlich bestimmte, dem Polizeivollzugsdienst vorbehaltene Befugnisse nicht zu, so kann sie von dem an die Stelle des im früheren Polizeirecht vorgesehenen Weisungsrechts (vgl. § 75 SächsPolG) getretenen Mittel des Vollzugshilfeersuchens (§ 4 Abs. 2 SächsPBG, § 37 SächsPVDG) Gebrauch machen.

Die Regelungen über die Vollzugshilfe stellen sicher, dass – soweit Bedarf für die Anwendung unmittelbaren Zwangs im Zusammenhang mit der Aufgabenerfüllung der Polizeibehörden besteht – dieser wie bisher durch den Polizeivollzugsdienst gewährleistet wird. Auch dann, wenn der Polizeivollzugsdienst Vollzugshilfe leistet, bestimmt aber die Polizeibehörde über das Einschreiten und das Handlungsziel; der Polizeivollzugsdienst ist nur für die Art und Weise der Durchführung verantwortlich (§ 37 Abs. 3 Satz 1 SächsPVDG).

(…)

Den vollständigen Beitrag lesen Sie im Neuen Polizeiarchiv 12/2023, Lz. 859.