Provokation, Eskalation, Gewalt prägen in zunehmendem Maße den Kontakt zwischen Bürgern und öffentlicher Verwaltung sowie etwaigen involvierten Sicherheitskräften. Vor diesem Hintergrund haben Rudi Heimann, Vizepräsident des LKA Hessen, und Dr. Jürgen Fritzsche vom Luxembourger Karateverband einen Leitfaden zum Thema Gewaltprävention und Eigensicherung verfasst.
Der allenthalben seit Jahren zu beklagende Rückgang des gegenseitigen Respekts scheint insbesondere im Verhältnis zu Angehörigen des öffentlichen Dienstes mit einer stetigen Zunahme an Aggressivität einherzugehen.
Die beiden Verfasser, die über langjährige berufliche Erfahrungen auf Gebieten verfügen, die eng mit der hier behandelten Thematik verflochten sind (vgl. S. 12), beschreiben diese Entwicklung in ihrer Einleitung: Provokation, Eskalation und Gewalt sind für die öffentliche Verwaltung dauerhaft relevante Themen.
Provokation, Eskalation, Gewalt
Neueste Daten belegen diese Feststellung: Im Jahr 2022 war mit 42 777 Gewalttaten allein gegen Polizeibeamte und 96 208 verletzten Beamten ein Anstieg gegenüber dem Vorjahr von 7,9 % zu verzeichnen (vgl. FAZ vom 10.11.2023, S. 1).
Konfliktbewältigung nimmt deshalb mittlerweile einen hohen Stellenwert ein (vgl. Füllgrabe, Psychologie der Eigensicherung – Überleben ist kein Zufall, 10. Aufl., Stuttgart 2023; Janda/Stelkens (Hrsg.), Intensivpetenten – Zwischen Engagement und Stalking – Ratgeber für den öffentlichen Sektor, Stuttgart 2023), genauso wie die von politischer Seite seit langer Zeit zu vernehmende Forderung nach einer Steigerung von Zivilcourage (vgl. etwa Ebert, Hinsehen oder wegsehen? – Zivilcourage als Chance und Risiko eigenmächtiger Rechtsverteidigung, DVP 2005, 485 ff.; ders., Mut zum Risiko – wie weit darf Selbstgefährdung gehen?, apf 2023, 212 ff.).
Doch auch bei unerfreulichen Entwicklungen bleibt die Verwaltung an Recht und Gesetz gebunden (Art. 20 Abs. 3 GG) und hat auf die Einhaltung der Menschenwürde und der Grundrechte zu achten (Art. 1 Abs. 1, 3 GG), und zwar auch dann, wenn sich – von den Verfassern so bezeichnete – „Kunden“ danebenbenehmen.
Mehr Sicherheit im beruflichen Kontext
Einen ersten eindrucksvollen Beleg für die Brisanz der Thematik liefert das Foto auf der ersten Einbandseite: Eine geballte Faust trifft in eine geöffnete Handfläche, die ein deutliches „Halt“ gegen eine körperliche Aggression signalisiert.
Die Verfasser möchten mit ihrem Werk „einen Beitrag zu mehr Sicherheit im beruflichen Kontext leisten und Bediensteten der öffentlichen Verwaltung Aufklärung bieten und Entscheidungshilfen in sicherheitskritischen Situationen an die Hand geben“ (S. 8). Innerbetriebliche Gewaltformen, wie etwa Mobbing, bleiben von ihrer Betrachtung ebenso ausgespart wie Aspekte des Arbeitsschutzes, des Brandschutzes und der medizinischen Erstversorgung. Vielmehr geht es nahezu ausschließlich um Kontakte zwischen Bürgern und Verwaltung.
Ihr Leitfaden richtet sich an Beschäftigte im öffentlichen Dienst, speziell in Justizeinrichtungen, in Erziehungs- und Bildungseinrichtungen einschließlich Berufs- und Hochschulen sowie im öffentlichen Personen(nah)verkehr.
Ausgangspunkt sind die „Öffentliche Verwaltung und Bevölkerung“ (Teil A., S. 13 ff.). Hier beleuchten die Verfasser die vielfältigen exekutiven Facetten auf mehreren Ebenen ebenso wie das „Vertrauen in den Staat“. Der weitere Aufbau des Leitfadens ist von der Situation vor, während und nach einem Konflikt geprägt.
Vor der sicherheitskritischen Situation
Teil B. behandelt die Lage „[v]or der sicherheitskritischen Situation“ (S. 19 ff.). In insgesamt acht Abschnitten wird zunächst anhand der Häufigkeit von Gewalt, der Frage des Respekts sowie der Ursachen und Folgen „[d]ie Situation im öffentlichen Dienst“ beschrieben, bevor die Themen „Konflikte“ und verschiedene Möglichkeiten von „Kommunikation“ erörtert werden.
Die Darstellung mündet sodann in die Abschnitte „Verbesserungspotenzial“, „Sicherheitskonzepte“, „Krisenmanagement“, „Erfolg durch gemeinsame Verantwortung“ und „Präventive Handlungsfelder am Arbeitsplatz“. Hier geht es vor allem auch darum, das individuelle Bewusstsein für denkbare Gefahrenlagen zu schärfen, um auf potenzielle Gefahrensituationen vorbereitet zu sein.
Zahlreiche eindrucksvolle Abbildungen auf S. 88 ff. geben ohne Weiteres zu verstehen, welche Ziele auf diese Weise erreicht werden sollen.
Während der sicherheitskritischen Situation
Teil C. („Während der sicherheitskritischen Situation“) nimmt mit 80 Druckseiten den breitesten Raum der Abhandlung ein (S. 95 ff.). Dieser Teil ist in elf Abschnitte untergliedert. Sie reichen von der „Entstehung der sicherheitskritischen Situation“ und den „Beteiligten in Konflikten“ (Täter, Opfer, Helfer, Zuschauer) über die Fragen „Unterstützung in Konflikten“ und „Gegenwehr im virtuellen Raum“ bis zum Punkt „Gesprächssituationen beherrschen“ (S. 110 ff.; fünf Kommunikationsgesetze).
Dabei wird ein weiteres Mal der nicht hoch genug anzusetzende Wert korrekter Gesprächsführung deutlich, die jedoch die Beherrschung der deutschen Sprache voraussetzt und geradezu verlangt (vgl. dazu Ebert, Sprache in der Rechtsanwendung – Richtiges Deutsch in Verwaltung und Justiz, 3. Aufl., Hürth 2020, S. 16 ff.; ders., Sprachlos in die Zukunft? Die Amtssprache ist Deutsch, apf – Landesteil Baden-Württemberg 2023, 46 ff.).
Danach wenden sich die Verfasser der „Bewältigung sicherheitskritischer Ereignisse“ zu; sie gehen anhand einer abgestuften Systematik ausführlich auf adäquate Verhaltensweisen in gefahrträchtigen Situationen ein. Weitere Besonderheiten schließen sich an: „Im Außendienst“, „Notintervention“, „Suizidankündigungen“ und „Massive Gewalttaten“, wie insbesondere Amokhandlungen.
Den Abschluss dieses Teils bildet ein Überblick über wesentliche „[r]echtliche Aspekte im Konfliktfall“ (vgl. dazu ausführlich Ebert, Grundlagen des Selbstverteidigungsrechts – Das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen, Köln 2017).
Nach der sicherheitskritischen Situation
Der letzte Teil (D.) befasst sich mit der Lage „[n]ach der sicherheitskritischen Situation“ (S. 185 ff.). Verhaltensauffälligen Kunden könne mit einem Stufensystem begegnet werden, das von einer Art schriftlicher Abmahnung als mildestes Mittel bis zur Strafanzeige und zum Hausverbot reichen kann.
Die Bewältigung möglicher Folgeschäden bedürfe einer gründlichen „Nachbereitung der Situation“, wobei es darum gehen müsse, Langzeitschäden zu verhindern. Ein bedeutsamer Faktor könne der „Umgang mit Medien“ sein (S. 199 ff.).
Weitere Aspekte können in Verbindung mit Straftaten wie Beleidigung, Bedrohung, Körperverletzung, Nötigung oder Sachbeschädigung Strafanzeigen sowie Schadensersatz- und Schmerzensgeldforderungen – jedoch auch Regressforderungen des Dienstherrn – darstellen.
Ein umfangreicher Serviceabschnitt schließt diesen Teil ab: Er beinhaltet Merkblätter und Muster, etwa für Notfälle, Bomben- und Anschlagsdrohungen, Meldungen oder den Umgang mit verdächtigten Postsendungen.
Fazit
Die aktuelle und potenzielle Bedrohungslage gegenüber der öffentlichen Verwaltung und ihren Mitarbeitern hält an oder nimmt sogar zu. Anhaltspunkte für eine bevorstehende Entspannung oder gar Verbesserung der Situation gibt es nicht.
Deshalb ist es nicht nur wichtig, sondern geboten oder vielleicht sogar unerlässlich, sich auf die in dem vorliegenden Leitfaden treffend beschriebenen Situationen einzustellen und mental vorzubereiten.
Die Thematik muss fortlaufend Gegenstand der Aus- und Fortbildung sein. Dies gilt insbesondere auch für die von den Verfassern intensiv erörterten soziologischen und psychologischen Aspekte von Konfliktentstehung, -vermeidung und -bewältigung. Die rechtlich zulässige und im Einzelfall möglicherweise gebotene körperliche Selbstverteidigung bei akuten Angriffen ist ein eigenes Thema.
Das Buch
Rudi Heimann, Dr. Jürgen Fritzsche
Richard Boorberg Verlag, 2023, 1. Auflage, 246 Seiten