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Nach den Wahlen in der Türkei: Die Konsequenzen für Deutschland und Europa

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Ergebnisse der Parlamentswahlen im Juni 2015

Die Wahl zur 25. Großen Nationalversammlung der Türkei fand am 7. Juni 2015 statt und endete mit deutlichen Stimmenverlusten der bisher regierenden islamisch-konservativen Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) von Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu. Die absolute Mehrheit, die sie seit 2002 verteidigte, verfehlte sie, blieb jedoch mit 41 % der Stimmen mit weitem Abstand die populärste Partei.  Die kemalistisch-sozialdemokratische Republikanische Volkspartei (CHP) unter ihrem Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu wurde mit 25,1 % die zweitstärkste Kraft. Die demokratisch-sozialistische und pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) überschritt die Zehn-Prozent-Sperrklausel mit 13,1 % und schaffte es ins Parlament. Die nationalistisch-rechtsextreme Milliyetçi Hareket Partisi (MHP) erzielte knapp 16,5 Prozent und verbesserte sich damit leicht.

Da nach der Wahl in der 45 Tage andauernden Frist keine Koalition gebildet werden konnte, war das Parlament aufgelöst und Neuwahlen für den 1. November 2015 ausgerufen worden. Die nationalistische MHP und die prokurdische HDP hatten eine Koalition mit der AKP direkt nach der Wahl ausgeschlossen. Mit der kemalistischen CHP gab es zwar Verhandlungen, doch diese scheiterten. Auch die drei Oppositionsparteien konnten sich untereinander nicht auf eine Koalition einigen.

Gewalt und Terror im Vorfeld zur Neuwahl

Der Wahlkampf für die Neuwahlen wurde von Ausschreitungen und Gewalt begleitet. Vor allem im Südosten der Türkei kam es zu Gewalteskalationen. Nach der Juni-Wahl entflammte erneut der Konflikt mit der kurdischen PKK, nachdem bis zum Sommer noch ein Frieden greifbar erschien. Am 10. Oktober 2015 überschattet ein Bombenanschlag auf eine Friedensdemonstration in Ankara den Wahlkampf, zu dem ein Bündnis linker Parteien und Gewerkschaften aufgerufen hatte. Mehr als 102 Menschen starben, über 500 wurden verletzt. Der Anschlag gilt als schlimmster der Geschichte der Türkei. Offiziell verdächtigten die Ermittler die Terrororganisation Islamischer Staat (IS): Einer der Attentäter habe kurz davor „Allahu akbar“ gerufen; ferner hätten die Sprengsätze große Ähnlichkeiten mit den Sprengsätzen vom Anschlag am 20. Juli 2015 in Suruç  aufgewiesen; dieser war ebenfalls durch einen Selbstmordattentäter verursacht worden und hatte 32 Menschen in den Tod gerissen. Nach Einschätzungen der HDP waren ihre Mitglieder das Ziel beider Anschläge,da die Bomben jeweils inmitten von HDP-Anhängern und Sympathisanten detoniert seien. Beobachter und Medienvertreter kritisierten, dass es keine stichhaltigen Beweise für den IS als Drahtzieher der Anschläge gab. In diesem Zusammenhang wurden auch keine Ermittlungen gegen die rechtsextremen Grauen Wölfe oder gegen nationalistische Hardliner der AKP aufgenommen. Zudem sei auffallend wenig Polizei bei den beiden Demonstrationen zugegen gewesen, was im Gegensatz zu allen vorherigen Demonstrationen verwunderte.

Entsprechend geäußerte Kritik und Anschuldigungen in einigen türkischen Medien wurden schließlich mit Staatsgewalt unterbunden. Die Redaktionen von Bugün, Millet sowie die Regieräume des zugehörigen Fernsehsenders Bugün TV und Kanaltürk wurden von der Polizei gewaltsam besetzt, der Sendebetrieb der TV-Stationen wurde eingestellt. Dieses Vorgehen sorgte für internationale Missbilligung, politische Konsequenzen blieben allerdings aus. Stattdessen reiste Bundeskanzlerin Angela Merkel am 18. Oktober 2015 in die Türkei zu einem Staatsbesuch und zu Verhandlung für Hilfsmaßnahmen der Türkei in der gegenwärtigen Flüchtlingskrise.

Die Parlamentswahlen im November 2015 und der Fortschrittsbericht der EU

Mit den Wahlen vom 1. November 2015 holte die AKP erneut die absolute Mehrheit und kann damit alleine regieren. Während die Wahlergebnisse erst rund 14 Tage später veröffentlicht wurden, wurde noch am selben Abend Ministerpräsident Davutoğlu  zum Sieger ausgerufen. Die Umfragen im Vorfeld zeigten ein anderes Bild, wonach die AKP erneut keine absolute Mehrheit hätte gewinnen können. Zudem fanden sich begleitend zur Wahl Berichte von türkischen Bürgern in sozialen Netzwerken wie Facebook, wonach sie und / oder Verwandte an der Ausführung ihres Wahlrechts gehindert wurden. Der Wahlsieg der AKP führte umgehend zu Protesten und Ausschreitungen in mehreren türkischen Städten.

Seit dem Jahr 1999 ist die Türkei ein EU-Beitrittskandidat, die Verhandlungen laufen seit Ende 2005. Die Fortschritte des Landes in Hinblick auf einen möglichen Beitritt werden in Fortschrittsberichten der EU dokumentiert. Im aktuellen Bericht werden massive  Einschnitte zentraler Menschen- und Grundrechte festgestellt; insbesondere die Meinungs- und Versammlungsfreiheit werde durch staatliche Institutionen eingeschränkt. Dies verstoße gegen europäische Standards. Sperrungen von sozialen Medien wie Twitter stießen ebenso auf Empörung wie offensichtliche Maßnahmen zur Einschüchterung von regierungskritischen Journalisten. Auch nach dem Wahlsieg der AKP geht die türkische Regierung weiter gegen Kritiker und Oppositionelle vor. Nachbesserungen erwartet die EU weiterhin in Rechten von Frauen, Kindern und sozialen und ethnischen Minderheiten wie oder Roma.

Auswirkungen in Deutschland

Nach dem Anschlag in Ankara haben sich die Fronten zwischen Türken und Kurden weiterhin verhärtet. Auch in Deutschland wächst die Sorge vor gewalttätigen Auseinandersetzungen. Solche fanden bereits statt. Am 12. September 2015 eskalierte eine Anti-PKK-Demonstration, an der Mitglieder der rechtsextremen Grauen Wölfe teilnahmen; ein syrischer Kurde wurde dabei durch einen Schnitt in den Hals lebensgefährlich verletzt. Die deutschen Sicherheitsbehörden gehen von einem Ausbreiten solcher organisierten, aber auch spontanen Gewaltexzesse zwischen Kurden und Türken aus.  

Quellen: 

● Kazim, Hasnain:  Türkei nach dem Anschlag: Das zerrissene Land, vom 12. Oktober 2015, Quelle: http://www.spiegel.de/politik/ausland/ankara-tuerkei-ist-nach-dem-anschlag-zerrissen-kommentar-a-1057386.html (abgerufen am 10.11.2015).   

●Tagesschau.de: Türkische Regierung geht gegen Kritiker vor Journalisten wegen „Putschversuchs“ angeklagt, vom 03. November 2015, Quelle: http://www.tagesschau.de/ausland/tuerkei-festnahmen-101.html (abgerufen am 10.11.2015). 

● Yücel, Deniz: Ein schwarzer Tag für die Türkei, vom 02. November 2015, Quelle: http://www.welt.de/debatte/kommentare/article148312810/Ein-schwarzer-Tag-fuer-die-Tuerkei.html (abgerufen am 10.11.2015).