Darf ein Markenhersteller seinen Abnehmern verbieten, seine Produkte online über Drittplattformen zu vertreiben, zum Beispiel über Amazon? Über die Frage gerieten kürzlich ein Anbieter von Luxuskosmetika, die Coty Germany GmbH, und einer seiner autorisierten Einzelhändler in Streit, der vor dem EuGH landete. In einer aktuellen und vielbeachteten Entscheidung hat der EuGH sich jetzt erneut mit dieser Grundsatzfrage auseinandergesetzt.
Die Pierre Fabre Dermo – Cosmetique Entscheidung
Die Thematik beschäftigt Gerichte und Hersteller schon seit Jahrzehnten. Solange es kartellrechtliche Vorschriften gibt, macht man sich berechtigte Gedanken über Schwellenwerte, Verbotsvorschriften und Freistellungen von Verboten zum Schutz des freien Wettbewerbs im deutschen und europäischen Rahmen.
Es war und ist in diesem Widerstreit unterschiedlicher Interessen viel Abwägungsarbeit zu leisten. In einer Hinsicht allerdings wähnte man sich seit dem 13.10.2011 auf der sicheren Seite. Das war der Tag, als die Dritte Kammer des EuGH in der Rechtssache C-439/09, einem Vorabentscheidungsverfahren nach Vorlage durch den Cour d’appel de Paris, eine kartellrechtliche Grundsatzfrage scheinbar klar und eindeutig entschied.
Das Urteil ging als ‚Pierre Fabre Dermo – Cosmetique Entscheidung‘ in die Literatur ein und betraf die Vorlagefrage:
‚Stellt ein den zugelassenen Vertriebshändlern im Rahmen eines selektiven Vertriebsnetzes auferlegtes allgemeines und absolutes Verbot, die Vertragsprodukte über das Internet an Endnutzer zu verkaufen, tatsächlich eine Kernbeschränkung und eine bezweckte Beschränkung des Wettbewerbs im Sinne von Art. 81 I EG (Art. 101 I AEUV) dar, die nicht unter die Gruppenfreistellung nach der Verordnung Nr. 2790/1999 fällt, aber möglicherweise in den Genuss einer Einzelfreistellung gemäß Art. 81 III EG (Art. 101 III AEUV) kommen kann?‘
Vertrieb nur mit individueller Beratung der Kunden…
Vollkommen im Einklang mit den kartellrechtlichen Prinzipien urteilte der EuGH damals, dass eine Vertragsklausel, die Kosmetika und Körperpflegeprodukte nur in einem physischen Raum und unter Anwesenheit eines diplomierten Pharmazeuten zuließ, eine bezweckte Wettbewerbsbeschränkung sei, weil Verkäufe über das Internet ohne objektive Rechtfertigung unmöglich gemacht würden. Auch sei eine Gruppenfreistellung nicht auf selektive Vertriebsvereinbarungen privilegierend anwendbar, die Klauseln enthält, die de facto das Internet als Vertriebsform für die Vertragsprodukte verbietet.
Beispiele für zulässige Vertriebsbeschränkungen waren klassischerweise technische Produkte, die vor Ort in Vertriebsräumen durch besonders geschultes Personal einer Erläuterung, Überwachung und Einführung bedurften, weil sonst ihr Betrieb, das Funktionieren oder die Wartung gefährdet sein würden.
Diese Argumentationsschiene griff auch die Dritte Kammer des EuGH auf und eruierte bei den Pierre Fabre – Produkten die Notwendigkeit einer individuellen Beratung der Kunden und seiner Schutzbedürftigkeit vor einer falschen Anwendung der Produkte bei anderen Vertriebswegen als den vertraglich erlaubten.
Schutz des Prestigecharakters der Luxusprodukte?
Der Kern der Argumentation findet sich in den Randziffern 45 – 47 des Urteils, in denen darauf eingegangen wird, dass Pierre Fabre auch auf die Notwendigkeit hinwies, durch das Internet-Vertriebsverbot den Prestigecharakter der in Rede stehenden Produkte zu schützen. Die Dritte Kammer dazu:
‚Das Ziel, den Prestigecharakter zu schützen, kann kein legitimes Ziel zur Beschränkung des Wettbewerbs sein und kann es daher nicht rechtfertigen, dass eine Vertragsklausel, mit der ein solches Ziel verfolgt wird, nicht unter Art. 101 I AEUV fällt‘.
Für viele Kommentatoren aber auch Gerichte stand damit fest, dass erstrebte Prestigeerhaltungs- oder -steigerungsziele durch die Selektion von Vertriebssystemen keinen objektiven Rechtfertigungsgrund und damit schon kein Abwägungskriterium bei der Ermittlung zulässiger Beschränkungen von Vertriebswegen sein können. Die typischen Luxuswarenhersteller bedauerten die Entscheidung und sannen über andere Wege nach, ihr exklusives Image zu wahren.
Das kartellrechtliche Universum schien in dieser Frage gefestigt. Dieser Zustand dauerte bis zum 6.12.2017.
Die aktuelle Coty-Entscheidung
Wiederum ging es in einem Vorabentscheidungsverfahren in der Rechtssache C-230/16 um die kartellrechtlichen Rahmenbedingungen des Internetvertriebs, genauer um einen Rechtsstreit der Coty Germany GmbH, einem Anbieter von Luxuskosmetika in Deutschland, und der Parfümerie Akzente GmbH, einem autorisierten Einzelhändler dieser Produkte. Coty hatte im Rahmen eines Depotvertrages zwischen sich und seinen autorisierten Einzelhändlern untersagt, beim Verkauf der Vertragswaren im Internet nach außen erkennbar nicht autorisierte Drittunternehmen einzuschalten.
Vorgelegt hatte das OLG Frankfurt a.M., nachdem das erstinstanzliche Gericht geurteilt hatte, die streitige Vertragsklausel verstoße gegen § 1 GWB und Art. 101 I AEUV, weil das Ziel der Aufrechterhaltung eines prestigeträchtigen Markenimages nach dem EuGH-Urteil ‚Pierre Fabre‘ die Einführung eines selektiven Vertriebssystems nicht rechtfertigen könne. Außerdem liege eine unzulässige Kernbeschränkung vor und die Voraussetzungen einer Einzelfreistellung seien nicht gegeben.
Neue Vorlagefrage des OLG Frankfurt: Luxusimage als schutzwürdiges Qualitätsmerkmal?
Das OLG Frankfurt als Berufungsinstanz legte dem EuGH genau diese kartellrechtlichen Einschätzungen der Vorinstanz zur Vorabentscheidung vor. Der Unterschied zu ‚Pierre Fabre‘: bei ‚Pierre Fabre‘ handelte es sich um den vollständigen vertraglichen Ausschluss des Internet-Vertriebs, bei ‚Coty‘ um die differenziertere Frage, ob ein Markenhersteller auf der Einzelhandelsstufe seinen Händlern untersagen darf, die Produkte online über Drittplattformen wie eBay oder Amazon zu vertreiben, die – für Kunden erkennbar – keine von den Einzelhändlern selbst betriebene Online-Shops sind.
Wie sich in der Argumentation der Ersten Kammer des EuGH herausstellte, war dieser Unterschied bedeutsam.
In ständiger Rechtsprechung hat der EuGH seit der ‚Metro-Entscheidung‘ aus dem Jahr 1977 und der ‚L’Oreal – Entscheidung‘ aus dem Jahr 1980 geurteilt, dass selektive Vertriebssysteme gerechtfertigt sein können, sofern die Auswahl der Wiederverkäufer anhand objektiver Gesichtspunkte qualitativer Art erfolgt, die einheitlich für alle in Betracht kommenden Wiederverkäufer festgelegt sind und ohne Diskriminierung angewendet werden, sofern die Eigenschaften des fraglichen Erzeugnisses zur Wahrung seiner Qualität und zur Gewährleistung seines richtigen Gebrauchs ein solches Vertriebsnetz erfordern und sofern die festgelegten Kriterien nicht über das erforderliche Maß hinausgehen. Beim kumulativen Vorliegen dieser Kriterien falle ein selektives Vertriebssystem nicht unter das Verbot des Art. 101 I AEUV.
Überraschende Entscheidung des EuGH
Überraschend für viele stellte der EuGH nunmehr in der ‚Coty-Entscheidung‘ fest, dass bei Luxuswaren die qualitativen Merkmale einer Ware nicht allein auf ihren materiellen Eigenschaften beruhe, sondern auch auf ihrem Prestigecharakter, der ihnen eine luxuriöse Ausstrahlung verleihe, so dass diese Ausstrahlung ein wesentliches Merkmal dafür sei, dass die Verbraucher sie von anderen ähnlichen Produkten unterscheiden könne und dass deshalb eine Schädigung dieser Ausstrahlung geeignet sei, die Qualität der Waren selbst zu beeinträchtigen.
Die Erste Kammer verweist dabei auf die ‚Copad-Entscheidung‘, C-59/08, vom 23.4.2009, in der selektive Vertriebssysteme für zulässig erachtet werden, die sicherstellen sollen, dass die Waren in den Verkaufsstellen in einer ihren Wert angemessen zur Geltung bringenden Weise dargeboten werden, um ihr luxuriöses Image zu wahren. Mithin sei ein selektives Vertriebssystem für Luxuswaren, das primär der Sicherstellung des Luxusimages dieser Waren dient, mit Art. 101 I AEUV vereinbar, sofern die bereits dargestellten ‚Metro-Entscheidungskriterien‘ erfüllt sind (Randziffern 25 – 29).
Ein grundlegender Widerspruch zu der ‚Pierre Fabre- Entscheidung‘ liege nicht vor, denn im dortigen Sachverhalt sei es um die Eignung und Verhältnismäßigkeit des Schutzes des Prestigecharakters von Waren bezogen auf ein pauschales Verbot des Verkaufs dieser Waren im Internet gegangen, mithin sowohl um einen anderen Individualsachverhalt und auch um eine andere Warengruppe, nämlich um Kosmetika und Körperpflegeprodukte. Mitnichten habe der EuGH mit ‚Pierre Fabre‘ seine ständige Rechtsprechung ändern wollen.
Die Prüfung, ob im jetzigen Ausgangsfall ein Vertriebsverbot über nach außen erkennbar nicht autorisierte Drittplattformen geeignet, erforderlich und verhältnismäßig ist, um das Luxusimage von Waren und die damit verbundenen Qualitätsanforderungen sicherzustellen, ergebe, dass ein solches selektives Vertriebsverbot, das nicht den gesamten Internetvertrieb (das ‚ob‘ des Vertriebs über das Internet), sondern nur erkennbare Drittplattformen betreffe (das ‚wie‘ des Vertriebs über das Internet), die nicht vom Hersteller zum Verkauf autorisiert seien, kartellrechtlich zulässig ist.
Zwar werde der intra-brand Wettbewerb zwischen Anbietern der gleichen Marke zur Sicherung eines Luxusimages eingeschränkt, zugleich jedoch der inter-brand Wettbewerb zwischen verschiedenen Marken belebt und geschärft.
Ein Verbot, an eine bestimmte Kundengruppe im Sinne des Art. 4 lit. b der VO 330/2010 zu verkaufen, liege schon alleine deswegen nicht vor, weil zwischen der Kundengruppe der Online-Käufer und der der Kunden von Drittplattformen keine Unterscheidung möglich sei. Auch eine unzulässige Beschränkung des Verkaufs an Endkunden gemäß Art. 4 lit.c VO 330/2010 sei nicht gegeben, weil es Händlern trotz der einschränkenden Vertragsklausel weiterhin unbenommen sei, über eigene Online-Shops zu verkaufen und diese auch in geeigneter Art zu bewerben.
Fazit
Die durchaus positiven Kommentierungen des Urteils in Literatur und Praxis, der EuGH schaffe mit dieser ‚Klarstellung‘ wahlweise Rechtssicherheit mit Augenmaß oder auch Klarheit im Internetvertrieb, vermag der Autor nicht vollständig zu teilen.
Zu viele Fragen bleiben offen:
– Die recht willkürliche Grenzziehung zwischen Markenwaren mit Prestigefaktor, die zwar Kosmetika und Körperpflegeprodukte, nicht aber Luxuswaren der ‚Luxuskategorie‘ sind (Pierre Fabre und Coty Produkte im Abgleich), verwirrt, ist aber ausdrücklicher Entscheidungsgegenstand der Coty-Entscheidung in Randziffer 32. Was genau Luxuswaren sind und welche braven Marken dieses Segment unterschreiten, ist eine spannende Frage.
– Schwierig auch die Bestimmung ‚qualitativer Faktoren‘, die bei selektiven Vertrieben immer als Motor einer Vertriebsbeschränkung vorgetragen werden und vorhanden sein müssen. Von der Behauptung bis zum Nachweis ist es ein langer Weg, besonders, wenn angeblich von der Aufrechterhaltung eines Luxusimages durch den Ausschluss von ‚Allerweltsvertriebskanälen‘ auch eine Qualitätserhaltung der Waren durch die Art der exklusiven Anpreisung erreicht wird. Die Argumentation scheint stark bemüht und nicht unbedingt stichhaltig zu sein.
Luxuswaren, Markenwaren und der große Rest. Qualität und Image. Wer, wie und wie weit seine Vertriebswege selektieren darf, ist mit ‚Coty‘ nicht wesentlich einfacher geworden.