Von einem Vorfahrtverzicht ist nur dann auszugehen, wenn der Berechtigte den Verzichtswillen in unmissverständlicher Weise zum Ausdruck bringt. Allein aus dem Umstand, dass der Vorfahrtsberechtigte an der Kreuzung abgestoppt hat, lässt sich kein Vorfahrtverzicht ableiten, zumal wenn dies auf dem Umstand beruht, dass der Vorfahrtsberechtigte seinerseits anderen Verkehrsteilnehmern von rechts Vorfahrt gewähren müsste (OLG Hamm).
Eine Frau fuhr mit ihrem Pedelec innerorts auf der M-Straße. Sie wollte die Fahrt geradeaus über die von rechts einmündende I-Straße hinweg fortsetzen. Der Kreuzungsbereich der beiden Straßen war nicht durch Verkehrsschilder geregelt.
Aus Fahrtrichtung der Radfahrerin kam auf der I-Straße ein Autofahrer von rechts herangefahren, der nach rechts in die M-Straße einbiegen wollte. Der Autofahrer bremste sein Fahrzeug kurz nahezu ab; als er wieder anfahren wollte, kam von links die Radfahrerin angefahren, sodass es zur Kollision kam. Hierbei wurde die Frau erheblich verletzt. Sie verlangte von dem Autofahrer Schadenersatz und Schmerzensgeld. Ihre Klage hatte beim Oberlandesgericht Hamm1 jedoch keinen Erfolg.
Verletzung des Vorfahrtsrechts des Autofahrers
Die Radfahrerin hatte gegen ihre Sorgfaltspflichten verstoßen, weil sie die Vorfahrt des Autofahrers nicht beachtet hatte.
An Kreuzungen und Einmündungen hat derjenige Vorfahrt, der von rechts kommt (vgl. § 8 Abs. 1 S. 1 StVO). Etwas anderes gilt nur dann, wenn die Vorfahrt durch Verkehrszeichen besonders geregelt ist.
Eine solche Sonderregelung war an der Unfall-Kreuzung nicht vorhanden, sodass der aus Sicht der Radfahrerin von rechts aus der I-Straße kommende Autofahrer ihr gegenüber vorfahrtsberechtigt war. Dieses Vorfahrtsrecht hatte die Frau missachtet, als sie mit ihrem Pedelec in den Fahrbereich des Autofahrers fuhr, bevor er den Kreuzungsbereich verlassen hatte.
Kein Verzicht auf Vorfahrtsrecht
Entgegen der Einlassungen der Radfahrerin konnte das Gericht nicht feststellen, dass der Autofahrer auf sein Vorfahrtsrecht verzichtet hätte und sie deshalb davon ausgehen durfte, vor ihm die Kreuzung passieren zu können.
Auf einen Vorfahrtverzicht darf nur vertraut werden, wenn man sich mit dem Vorfahrtsberechtigten eindeutig verständigt hat. Bei der Deutung von Gesten wie Handzeichen, Lächeln oder Nicken des an sich Vorfahrtsberechtigten sei daher Vorsicht geboten. Von einem Vorfahrtverzicht könne nur dann ausgegangen werden, wenn der Berechtigte den Verzichtswillen in unmissverständlicher Weise zum Ausdruck bringe. Schon die geringsten Zweifel hieran gingen zulasten des Wartepflichtigen. Dieser müsse im Übrigen auch ggf. den Vorfahrtverzicht beweisen.
Dies konnte die Radfahrerin hier nicht: Keiner der Zeugen des Verkehrsunfalls konnte eine Verständigung dahingehend bestätigen, dass der Autofahrer auf sein Vorfahrtrecht verzichtet habe. Allein der Umstand, dass der Autofahrer an der Kreuzung abgestoppt habe, bedeute nicht, dass er auf sein Vorfahrtsrecht verzichten wollte. Dies gelte umso mehr, wenn, wie im vorliegenden Fall, dieses Anhalten ersichtlich auf dem Umstand beruhte, dass der Autofahrer seinerseits die von seiner Sicht aus von rechts aus der M-Straße kommenden Fahrzeuge beachten und ihnen Vorfahrt gewähren musste. Ein Verzicht auf die eigene Vorfahrt gegenüber den von links kommenden Verkehrsteilnehmern war damit nicht verbunden. Vielmehr durfte der Autofahrer weiterhin darauf vertrauen, dass sein Vorfahrtsrecht beachtet werde. Nach alledem gelangte das Gericht zu der Überzeugung, dass die Radfahrerin an dem Unfallereignis allein schuldig war.
1 Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 24.07.2018 – 7 U 35/18, besprochen in RdW 12/2019, Rn. 222.
