Rechtliches

Wechselseitige Rücksichtnahme bei Fahrbahnverengungen

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Der Bundesgerichtshof (BGH) hat entschieden, dass bei einer beidseitigen Fahrbahnverengung (Gefahrenzeichen 120 nach Anlage 1 zu § 40 Abs. 6 und 7 Straßenverkehrsordnung – StVO) das Gebot der wechselseitigen Rücksichtnahme (§ 1 StVO) gilt. Ein regelhafter Vorrang eines der beiden bisherigen Fahrstreifen bestehe nicht.

Unfallgeschehen

Die Parteien stritten um den Ersatz eines Sachschadens nach einem Verkehrsunfall. Eine Zeugin hatte mit dem Fahrzeug der Klägerin den rechten Fahrstreifen einer in Fahrtrichtung zunächst zweispurigen Straße befahren. Neben ihr, auf dem linken Fahrstreifen, fuhr ein Lkw. Nach einer Ampel folgten noch fünf Markierungen zwischen den beiden Fahrstreifen, dann befand sich das Symbol der beidseitigen Fahrbahnverengung (Gefahrenzeichen 120) auf der Fahrbahn. Der Lkw zog nach rechts und kollidierte mit dem Fahrzeug der Klägerin, welches er nicht gesehen hatte. Beide Fahrzeuge wurden beschädigt. Die Haftpflichtversicherung des Lkw hat den Schaden der Klägerin vorgerichtlich auf Grundlage einer Haftungsquote von 50 : 50 reguliert.

Vorinstanzen

Das Amtsgericht (AmtsG) hat die auf Zahlung der Differenz zu einer hundertprozentigen Haftung der Beklagten gerichtete Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin hat das Landgericht (LG) zurückgewiesen. Hiergegen richtete sich die vom LG zugelassene Revision der Klägerin, mit der sie ihren Zahlungsanspruch weiterverfolgte.

Nach Auffassung des LG war der Unfall für die Klägerin nicht unvermeidbar. Die deshalb notwendige Haftungsverteilung (§ 17 Abs. 2, Abs. 1, § 18 Abs. 3 Straßenverkehrsgesetz – StVG) sei maßgeblich auf der Grundlage des allgemeinen Rücksichtnahmegebots aus § 1 StVO zu bemessen. Das Verkehrszeichen 120 („Verengte Fahrbahn“) der Anlage 1 zu § 40 Abs. 6 und 7 StVO löse keinen Vorrang eines der beiden sich zu einem Fahrstreifen verengenden Fahrstreifen aus.

Anders als beim Zeichen 121 („Einseitig verengte Fahrbahn“) ende nicht einer der beiden Fahrstreifen, weshalb nicht vom Vorrang des durchgehenden Fahrstreifens ausgegangen werden könne und das Reißverschlussverfahren (§ 7 Abs. 4 StVO) keine Anwendung finde. Grundsätzlich und insbesondere in dem Fall, dass beide Fahrzeuge vor einer Fahrbahnverengung gleichauf und mit gleicher Geschwindigkeit fahren, bedürfe es besonderer gegenseitiger Aufmerksamkeit, Besonnenheit und Geistesgegenwärtigkeit, um eine Abstimmung über das Einordnen vor- bzw. hintereinander zu erzielen.

Im Zweifel seien die Verkehrsteilnehmer gehalten, jeweils dem anderen den Vorrang einzuräumen. Ein Vorrang des rechts fahrenden Fahrzeugs lasse sich aus der StVO nicht herleiten. Auf dieser Grundlage falle der Klägerin ein Verstoß gegen die Rücksichtnahmepflicht zur Last, weil sie von einer nicht gegebenen Vorfahrtberechtigung ausgegangen sei und darauf vertraut habe, dass der Lkw sich hinter ihr einordnen werde.

Der Fahrer des Lkw habe gegen das Rücksichtnahmegebot verstoßen, weil er die Fahrbahnverengung nicht aufmerksam genug befahren und deshalb das Fahrzeug der Klägerin nicht gesehen habe. Diese Verstöße wögen etwa gleich schwer. Eine erhöhte Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs habe sich nicht nachweislich ausgewirkt.

Hälftige Haftungsverteilung

Diese Erwägungen halten der revisionsrechtlichen Überprüfung stand. Ohne Erfolg wendet sich die Revision ferner gegen die vom LG auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen vorgenommene hälftige Haftungsverteilung. Die Entscheidung über die Haftungsverteilung i. R. d. § 17 StVG ist – wie i. R. d. § 254 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) – grundsätzlich Sache des Tatrichters und im Revisionsverfahren nur darauf zu überprüfen, ob alle in Betracht kommenden Umstände vollständig und richtig berücksichtigt und der Abwägung rechtlich zulässige Erwägungen zugrunde gelegt worden sind. Die Abwägung ist aufgrund aller festgestellten, d. h. unstreitigen, zugestandenen oder nach § 286 Zivilprozessordnung (ZPO) bewiesenen Umstände des Einzelfalls vorzunehmen, die sich auf den Unfall ausgewirkt haben. In erster Linie ist hierbei das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben.

Ein Faktor bei der Abwägung ist dabei das beiderseitige Verschulden. Nach diesen Grundsätzen sind die Erwägungen des LG nicht zu beanstanden. Es hat zutreffend angenommen, dass bei einer beidseitigen Fahrbahnverengung (Gefahrenzeichen 120) allein das Gebot der wechselseitigen Rücksichtnahme (§ 1 StVO) gilt und sich auch bei zwei gleichauf in die Engstelle fahrenden Fahrzeugen kein regelhafter Vortritt des rechts fahrenden Fahrzeugs ergibt.

Das Allgemeine Gefahrenzeichen 120 („Verengte Fahrbahn“) nach Anlage 1 zu § 40 Abs. 6 und 7 StVO signalisiert eine Verengung der Fahrbahn. Im Falle der Verengung von zuvor zwei auf nunmehr nur noch einen Fahrstreifen gibt es – anders als beim Zeichen 121 („Einseitig verengte Fahrbahn“) – nicht einen durchgehenden und einen endenden Fahrstreifen, sondern beide Fahrstreifen werden in einen Fahrstreifen überführt.

Das Durchfahren der Engstelle ist daher für sich genommen nicht mit einem Fahrstreifenwechsel i. S. d. § 7 Abs. 5 StVO verbunden; auch greift das Reißverschlussverfahren des § 7 Abs. 4 StVO nicht unmittelbar. Die in der Verengung liegende und durch das Zeichen 120 signalisierte Gefahr führt jedoch zu einer erhöhten Sorgfalts- und Rücksichtnahmepflicht der auf beiden Fahrstreifen auf die Engstelle zufahrenden Verkehrsteilnehmer i. S. d. § 1, § 3 Abs. 1 StVO. Nichts anderes gilt auch dann, wenn beide Fahrzeuge gleichauf und mit gleicher Geschwindigkeit an die Engstelle gelangen.

Auch in diesem Fall gebührt dem rechts fahrenden Fahrzeug nicht regelhaft der Vortritt. Das Gefahrenzeichen 120 enthält eine derartige Vorrangregelung nicht. Anders als die Revision meint, ergibt sich ein solcher Vorrang des rechts fahrenden Verkehrsteilnehmers auch nicht mittelbar aus einer Gesamtschau der insoweit relevanten Vorschriften der StVO. Zwar ist grundsätzlich von zwei Fahrbahnen die rechte zu benutzen (§ 2 Abs. 1 Satz 1 StVO) und auch darüber hinaus möglichst weit rechts zu fahren (§ 2 Abs. 2 StVO). Bei Fahrbahnen mit mehreren Fahrstreifen in eine Richtung ist dieses Rechtsfahrgebot jedoch unter den Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 und 3 StVO aufgehoben, sodass sich auch der auf dem linken Fahrstreifen der Engstelle nähernde Verkehrsteilnehmer grundsätzlich verkehrsgerecht verhält. Die Situation einer Kreuzung oder Einmündung, in der die Vorfahrt hat, wer von rechts kommt (§ 8 Abs. 1 Satz 1 StVO), ist nicht vergleichbar.

Einem Vorrang des rechts fahrenden Fahrzeugs stünde in systematischer Hinsicht auch der Vergleich mit der Konstellation des Zeichens 121 Anlage 1 zu § 40 Abs. 6 und 7 StVO („Einseitig verengte Fahrbahn“) entgegen. Im Fall der einseitigen Fahrbahnverengung muss das auf dem endenden Fahrstreifen fahrende Fahrzeug einen Fahrstreifenwechsel vornehmen (§ 7 Abs. 4 StVO), während das auf dem durchgehenden Fahrstreifen fahrende Fahrzeug einen grundsätzlichen Vorrang genießt.

Besteht bei der einseitigen Fahrbahnverengung links ein Vorrang des auf dem rechten Fahrstreifen fahrenden und bei der einseitigen Fahrbahnverengung rechts ein Vorrang des auf dem linken Fahrstreifen fahrenden Fahrzeugs, weil sich diese jeweils auf dem durchgehenden Fahrstreifen befinden, während der andere Fahrstreifen endet, ist es folgerichtig, bei der beidseitigen Fahrbahnverengung keinem der beiden Fahrzeuge gegenüber dem jeweils anderen regelhaft einen Vorrang einzuräumen.

Gebot zur gegenseitigen Rücksichtnahme

Im Ergebnis hat daher keines der beiden Fahrzeuge den Vorrang und sind die Fahrzeugführer gehalten, sich unter gegenseitiger Rücksichtnahme (§ 1 StVO) darüber zu verständigen, wer als erster in die Engstelle einfahren darf. Gelingt die Verständigung nicht, sind sie dazu verpflichtet, im Zweifel jeweils dem anderen den Vortritt zu lassen. Nach all dem ist das LG zu Recht davon ausgegangen, dass sowohl der Fahrer des Lkw als auch die Klägerin gegen ihre Pflicht zur erhöhten Rücksichtnahme verstoßen haben. Der Lkw-Fahrer hat die Fahrbahnverengung nicht aufmerksam genug befahren und deshalb das klägerische Fahrzeug nicht gesehen. Die Klägerin ist zu Unrecht von eigener Vorfahrt ausgegangen und hat daher sorgfaltswidrig darauf vertraut, das links neben ihr fahrende Beklagtenfahrzeug werde sich hinter ihr in die von ihr befahrene rechte Spur einfädeln.

Die Abwägung der festgestellten Verursachungsbeiträge sowie die darauf beruhende Festsetzung der konkreten Haftungsquote als solche obliegt dem Tatrichter und ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Soweit sich die Revision gegen die Gewichtung der Betriebsgefahren wendet, erhebt sie keine ordnungsgemäß ausgeführte Verfahrensrüge gegen die Feststellung des LG, es stehe nicht fest, dass sich eine erhöhte Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs im Streitfall ausgewirkt habe.

Bundesgerichtshof, Urteil vom 08.03.2022 – VI ZR 47/21 –.

 

Entnommen aus der Fundstelle Baden-Württemberg 6/2023, Rn. 72.