Aus- und Fortbildung

Ursachen der Gewaltkriminalität in der Schule

RBV

Gewalt in der Schule

„Gewalt in der Schule“ ist seit Jahren in den Schlagzeilen (vgl. auch Gewalt an Schulen: Das Amok-Phänomen [Robert F.J. Harnischmacher], Sicherheitsmelder vom 5.1.2007). Das Thema war bereits bei der Schulstudie „PISA 2000“ im Gespräch. Das schlechte Abschneiden trat damals eine breite bildungspolitische Diskussion los. Schon in altershomogenen Klassen können Chaoten die ganze Klasse durcheinander bringen. Wichtig sind Personal und Fördermöglichkeiten sowie genügend Platz, um die Störer zu isolieren und dem sozialen Stand der Klasse anzupassen.

Gewalttaten nehmen zu, Täter werden immer jünger und die Gewalt brutaler. „Gewalt in der Schule“ wird nicht dramatisiert. Hat es doch schon immer Gewalt gegeben, vom Mord an Abel durch Kain über Hiroshima, Hoyerswerda, Mölln, Solingen und Rostock bis zu den vielfältigen Formen von Gewalt in den Medien.

Veränderungen der Familienstrukturen

Das Image der Schule hat sich verändert, weil sich die Gesellschaft gewandelt hat. Einiges ist die Schuld der Erzieher: So ist die Schule zu einem Gefängnis von Zuhörern geworden. Einiges ist die Schuld der Eltern: So hat die Schule weitgehend Elternaufgaben übernommen wie Versorgung und Fürsorge der Kinder. Sie ist Familienersatz, ohne diese Rolle ausfüllen zu können.

Der ökonomische Druck, dem sich Familien heute teilweise selbst aussetzen, hat zu Veränderungen der Familienstrukturen geführt. Gewalt ist ein Bestandteil unserer Gesellschaft.

Ursachen der Gewalt in der Schule

Es gibt auch Ursachen für Gewalt, die in der Schule selbst liegen. Die an der Schule Beteiligten können daran am ehesten etwas ändern. Darüber hinaus muss Schule aber auch die vor- und außerhalb der Schule liegenden Ursachen erkennen. Die Gewaltbereitschaft Jugendlicher wird vielfach auf Bindungsdefizite, Langeweile, Vernachlässigung, fehlende Anerkennung, Konkurrenzdruck und Perspektivlosigkeit zurückgeführt. Desintegrationsprozesse der modernen Industriegesellschaft führen bei Jugendlichen zu Verunsicherung und Erfahrungen von Ohnmacht, zugleich empfinden sie Gewalt, auch durch die Medien vermittelt, als bedeutsames Problemlösungsmittel.

Gewalttätigkeiten zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen in den Schulen resultieren aus Intoleranz, Informationsmangel, Fremdenangst, Machtstreben und Zugehörigkeitswunsch, Mangel an Verständnisbereitschaft. Eine intolerante Welt und die Fremdenangst der Erwachsenen führen dazu, dass sich junge Menschen von anderen Gruppen abgrenzen und Konflikte entstehen.

Gewaltprävention muss als ganzheitliche Aufgabe im Schulalltag gesehen werden: Dazu gehören u.a. das Wohl des Kindes, persönliche Bezüge zu Lehrern, fürsorglicher und demokratischer Erziehungsstil, Vertrauen, Schulmanagement und Grundkonsens in pädagogischen Fragen.

Beispiele von Gewalt in der Schule

Es gibt viele schulspezifische Formen von roher bis subtiler Gewalt, die erkennbar zunimmt, z.B.:


  • Pausenhöfe, Klassenzimmer und Toiletten werden mit Farbschmierereien, unflätigen Zoten und üblen Angriffen gegen Mitschüler und Lehrer verunstaltet. Es dauert oft Wochen und Monate bis die Schmierereien entfernt werden!

  • Lehrer schämen sich, Eltern am Sprechtag im Klassenzimmer einen Stuhl anzubieten, weil die Stühle beschädigt und Tischplatten bis zum Rand mit z.T. üblen Schmierereien bedeckt sind.

  • Glaserbetriebe kommen kaum noch nach, zerstörte Fenster und Sicherheitsglastüren zu ersetzen, von den Kosten einmal ganz zu schweigen.

  • Die jüngsten Schüler, kaum ein paar Tage an der Schule, sind kaum noch zu bändigen. Es gibt über Wochen und Monate „Klassenkriege“, nicht selten mit erheblichen Verletzungen.

  • Ein ob seiner Aggressivität bekannter Schüler antwortet auf die Frage eines Lehrers: „Was würdest du sagen, wenn ich dich so behandelte wie du deine Mitschüler?“ „Das würde ich drauf ankommen lassen, dann würde man ja sehen, wer der stärkere ist“.

  • Telefonterror und Internetangriffe gegen Lehrer und Schüler sind an der Tagesordnung.

  • Blutige Gewalt gehört zum Alltag in US-Schulen: 2,5 Millionen Teenager besitzen Waffen (Gewehre, Messer, Rasierklingen für Angriff und Verteidigung).

  • Verbale Aggressionen durch Reizwörter gegenüber Mitschülern sind u.a.: Blödmann, Arsch, dumme Kuh, Wichser und Fotze.

Überforderung des Lehrpersonals

Eine Mehrzahl der Lehrkräfte fühlt sich nach Untersuchungen der GEW durch aggressives Schülerverhalten überfordert und 90 % der Lehrer räumen ein, sie hätten Probleme mit aufsässigen Schülern, die heute die Regel sind. Lehrer sind durch ihre Arbeit stärker belastet als jede andere vergleichbare Berufsgruppe.

Die Schule sollte sich stärker auf ihren Erziehungsauftrag besinnen. Wichtiger als präzise Wissensvermittlung ist die Sozialisationsaufgabe des Lehrers, da die Familie immer mehr in dieser Funktion versagt. Der Einsatz von Sozialpädagogen und Co-Lehrern ist unverzichtbar. Die flexible Eingangsstufe befördert die offene Ganztagsgrundschule. Wichtig ist, dass die Kinder nicht von wohlmeinenden Laien betreut, sondern von Profis gefördert werden: Erzieher, Pädagogen, aber auch Künstler oder Handwerker, die ihnen Wissen und Können vermitteln. Bei der Förderung von Kindern in der Schule spielt nach einer OECD-Studie die Lehrer-Qualifikation eine entscheidende Rolle. Qualifizierte, motivierte Lehrer sind ein wesentlicher Faktor für ein erfolgreiches Bildungssystem.

Aufklärung und Aus-/Fortbildung der Lehrer in sozialpsychologischer Sicht wird gefordert, um Aggressionsformen der Gewalt besser begegnen zu können. Lehrer sollen weniger wegsehen, wenn Schüler sich prügeln oder Schülerinnen sexuell belästigen.

Schulen „mit Gesicht“

Nachdem man sich seit Jahrzehnten „erfolg(?)-reich“ bemüht hat, Schulen zu enttypisieren, wächst das Gespür, der eigenen Schule ein individuelles, unverwechselbares und attraktives Profil zu geben.

Man müsste mit „Talenten“ viel mehr wuchern. Erfahrungsgemäß verbinden Schüler häufig wenig oder nichts mit dem „Patron“ ihrer Schule. Schulen werden oft nur noch nach Orten oder stadtteilbezogen benannt. Schulen sollten nur ein oder zwei Partnerschaften in anderen Ländern mit Leben erfüllen.

Verantwortung sollte z.B. für ein Projekt bei den Ärmsten, getragen von möglichst vielen Schülern und Lehrern, das ganze Jahr hindurch, nicht nur zur Weihnachtszeit, übernommen werden. Eine Schulleiter-Persönlichkeit, die Visionen hat und nicht no future-Mentalität und ein Kollegium, das bei aller Pluralität an einem Strick zieht sind anzustreben. Es gibt Schulen, die vorbildlich sind, wo sich Schüler mit ihrer Schule identifizieren, wo man einen gesunden Stolz entwickelt, Schüler einer bestimmten Schule zu sein. Andere Länder zeigen, dass an diesen Schulen Gewalt in aller Regel kein Thema ist.

Phänomen Gewalt und die Wirklichkeit

Der Begriff Gewalt löst unterschiedliche Vorstellungen aus. Der eine denkt an Ohrfeigen und eine Tracht Prügel, der zweite an Totschlag, der nächste an eine Hausbesetzung. Anderen fallen Ausschreitungen in Fußballstadien, Aggressionen gegen Ausländer, das Vorgehen der Polizei bei Demonstrationen u.a. ein. Dies alles lässt sich mit dem Gewaltbegriff belegen.

Gewalt gegen Personen ist etwas anderes als Gewalt gegen Sachen. Von der Wirkung her spricht man

von körperlicher Gewaltanwendung, z.B. beim Telefonterror durch Einschüchterung. Eine strukturelle Gewalt liegt z.B. bei einer anonymen Stadtstruktur vor. Wenn Gewalt zum Alltag zählt, sie sich überall abspielt, wo Menschen leben, vom Kindergarten über die Schule bis in die Betriebe hinein, kann man vom alltäglichen Erscheinungsbild der Gewalt sprechen. Kinder und Jugendliche lernen unbewusst und durch eigene Erfahrung, dass es eine Ellenbogenmentalität gibt.

Letztlich sind die sich lockernden sozialen Bindungen im vom Existenzsorgen gestressten Elternhaus, mangelnde sinnvolle Freizeitangebote, oder die tägliche Gewaltverherrlichung im Fernsehen oder per Video für die eingefahrenen, gewalttätigen Verhaltensmuster verantwortlich.

Gewaltdelikten ist gemeinsam, dass Hemmschwellen überwunden werden müssen. Der Körperverletzer ist der Täter, der plötzlich rot sieht. Gewaltkriminalität ist eine Domäne der Jugendlichen, besonders der ausländischen Jugendlichen. Alkoholeinfluss und Gruppendelinquenz sind für Gewaltdelikte typisch.

Besondere Horte der Gewaltdelinquenz findet man in verschiedenen sozialen Gruppierungen. Immer mehr Jugendbanden bilden sich, wenn soziale Gruppen wie Familie, Schule, Nachbarschaft, Ausbildungs-, Berufs- und Freizeitgruppen zerfallen.

Lösungsansätze

Kleinere Klassen und baulich überschaubare Strukturen sind notwendig. Es darf keine Schulfabriken und Erlebnisarmut in einem betonierten Schulumfeld geben. Die Starterklassen sollen maximal 20 Schüler aufnehmen und mit einem Lehrer und einem Sozialpädagogen besetzt sein.

Es ist chic geworden, in der Schülerschaft Waffen mitzuführen und zu benutzen, z.B. Schlagringe, (Klapp-) Messer, Wurfsterne, Gaspistolen, Gasspraydosen, Elektroschocker, Schlagketten, Schlagstöcke und selbstgefertigte Nunchakus, sei es mit einer Schutzbehauptung oder zum „Vorzeigen“ (Imponiergehabe). Es darf nicht zu noch verrückteren, vandalistischen Attacken kommen („Broken Window-Theorie“). Wo Schulen verwahrlosen, steigt die Bereitschaft zum Zerstören.

Viele Kinder fühlen sich als „underdog“. So empfinden sie es auch als okay, wenn sie andere „treten“ oder ihnen Schmerzen zufügen. Mitschüler stehen herum und greifen nicht ein. Auch Tritte und Schläge gegen den Kopf oder in die Genitalien sind kein Tabu mehr.

Legale Drogen werden regelmäßig zum Konflikt- und Spannungsausgleich genutzt. Emotionale Anspannungen wegen schlechter Schulleistungen werden im Alkohol ertränkt. Diejenigen, die sich in Banden flüchten, benutzen Alkohol als Mittel für den Zusammenhalt und zur Abgrenzung von der Erwachsenenwelt. Viele versuchen durch „Binge drinking“ („Saufen bis zum Umfallen“) Stärke zu demonstrieren.

Mobbying, Bullying, Bossing

Mobbing, wie Beschimpfungen, Hänseleien, Rangeleien und Psychoterror am „Arbeitsplatz“ Schulklassenraum nehmen zu. Schüler werden fertig gemacht durch Spott, Hohn und Bedrohung. Es kommt zu körperlicher Gewalt gegen Schwächere. Wut, Frust und eigenes Versagen wird „abgearbeitet“ und sei es nur, wenn man jemanden findet, auf dessen Kosten man sich amüsieren kann. Mobbying wird auch als Bullying bezeichnet (bully = Tyrann, Rabauke) und wenn es von Lehrern ausgeübt wird, nennt man das auch Bossing (von Boss = Chef). Bei sog. schulischem Leistungsdruck entstehen Versagensängste, Frustration und Konkurrenzdenken. Mangelnde Bestrafungskompetenzen werden eingefordert, aber auch die Autoritätsrolle der Schule nachgefragt-

Schulen sind people processing organizations

Schulen sind Dienstleistungseinrichtungen des Typs der „people processing organizations“, soziale Systeme, die die Aufgabe der Beeinflussung und Veränderung persönlicher Kompetenzen ihrer Klienten haben. Ihr Auftrag ist die kognitive und soziale Bildung der Persönlichkeit von Schülern. Ein hierarchisch aufgebautes, nach zentralen Lehrplänen operierendes Schulsystem, bei dem die Schule eine Befehlsempfängerinstanz in einer unübersichtlichen Bürokratie ist, wird sowohl den Entwicklungsbedürfnissen der Schüler als auch den Ansprüchen der Lehrerschaft nicht gerecht.







Praxishinweise


  • Gewalt in der Schule ist zum Glück kein Tabu mehr. Wenn die Schulpolitik jedoch weiterhin auf Sparflamme fährt, werden künftig mehr Haftanstalten gebaut werden müssen und das Geld, das in der Prävention keine verlorene Investition ist, ansonsten für Strafvollzugsaufgaben mit weitaus größerem Kostenansatz ausgeben werden müssen.

  • Erziehung muss reformiert werden. Junge Menschen haben das Recht darauf, ernst genommen zu werden. Dazu muss man sich Zeit nehmen, zu Hause und in der Schule. Für die gute Entwicklung von Kindern gibt es kein besseres Konzept als die intakte Familie.

  • Eine weitere umfassende Reform der Lehrerausbildung muss angestrebt werden.

  • Die Jugend soll erzogen werden im Geiste der Menschlichkeit, Demokratie und Freiheit, zur Duldsamkeit und Achtung anderer, in Liebe zur Heimat mit Friedensgesinnung.