Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Zurückweisung eines Vollstreckungsschutzantrags gem. § 765 a ZPO im Hinblick auf die – bereits vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde vollzogene – Räumung einer Mietwohnung.
Verfahren vor den ordentlichen Gerichten
Die Eltern des im Jahr 1961 geborenen Beschwerdeführers (Bf.) waren seit 1967 Mieter einer Wohnung, in welcher sie mit ihm gemeinsam lebten. Sein Vater verstarb bereits vor längerer Zeit. Seine Mutter verzog im Jahr 2019 in ein Pflegeheim.
Danach sprachen die Wohnungseigentümer zunächst gegenüber der Mutter und kurze Zeit später auch ihm gegenüber eine Eigenbedarfskündigung aus und forderten diesen auf, die Wohnung zu räumen.
Nachdem seine Mutter im Februar 2020 verstorben war, erklärten die Wohnungseigentümer ihm gegenüber im März 2020 die fristlose Kündigung des Mietverhältnisses wegen Zahlungsverzugs. Das Amtsgericht (AmtsG) verurteilte ihn zur Räumung der Wohnung.
Das Landgericht (LG) wies seine hiergegen gerichtete Berufung zurück. Daraufhin beantragte er beim AmtsG Vollstreckungsschutz gem. § 765 a ZPO. Zur Begründung machte er u. a. massive gesundheitliche Probleme geltend, die er mit ärztlichen Bescheinigungen untermauerte.
Das AmtsG lehnte den Vollstreckungsschutzantrag ebenso wie das LG ab. Daraufhin wurde mithilfe von zwei Polizeibeamten die Räumung durch Einweisung der Gläubiger in den Besitz der Räume mittels Übergabe der Wohnungsschlüssel vollzogen.
Verfassungsbeschwerdeverfahren
Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Bf. eine Verletzung seines Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG). Obwohl das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen hat, hat es sich inhaltlich mit den Entscheidungen der Fachgerichte auseinandergesetzt und einige richtungweisende Aussagen getroffen.
Vorliegend erscheint eine Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG durch das Vorgehen der Vollstreckungsgerichte nicht ausgeschlossen. Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verpflichtet die Vollstreckungsgerichte, bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 765 a ZPO auch die Wertentscheidungen des GG und die dem Schuldner in der Zwangsvollstreckung gewährleisteten Grundrechte zu berücksichtigen.
Eine unter Beachtung dieser Grundsätze vorgenommene Würdigung aller Umstände kann in besonders gelagerten Einzelfällen dazu führen, dass die Vollstreckung für einen längeren Zeitraum und – in absoluten Ausnahmefällen – auf unbestimmte Zeit einzustellen ist.
Ergibt die erforderliche Abwägung, dass die der Zwangsvollstreckung entgegenstehenden, unmittelbar der Erhaltung von Leben und Gesundheit dienenden Interessen des Schuldners im konkreten Fall ersichtlich schwerer wiegen als die Belange, deren Wahrung die Vollstreckungsmaßnahme dienen soll, so kann der trotzdem erfolgende Eingriff das Prinzip der Verhältnismäßigkeit und das Grundrecht des Schuldners aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verletzen.
Umfang der Prüfungspflicht des Vollstreckungsgerichts
Die Vollstreckungsgerichte haben in ihrer Verfahrensgestaltung die erforderlichen Vorkehrungen zu treffen, damit Verfassungsverletzungen durch Zwangsvollstreckungsmaßnahmen ausgeschlossen werden und der sich aus dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ergebenden Schutzpflicht staatlicher Organe Genüge getan wird.
Nach diesen Maßstäben begegnen die angegriffenen Entscheidungen hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) aus verfassungsrechtlicher Sicht Bedenken.
Das AmtsG hat eine Prüfung der Einstellungsvoraussetzungen des § 765 a ZPO als entbehrlich angesehen, weil die einstweilige Einstellung des Verfahrens nach der „ärztlichen Stellungnahme“ und den Angaben des Bf. „nicht abschließend zielführend“ für ihn sei. Dabei verkennt das Gericht bereits, dass die Vollstreckung nach § 765 a ZPO in absoluten Ausnahmefällen auch auf unbestimmte Zeit eingestellt werden kann.
Auch lässt der angegriffene Beschluss eine sorgfältige Prüfung der Frage vermissen, inwiefern der vorgetragenen Gefahr für Leib und Leben des Betroffenen auch durch eine nur einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung hätte begegnet werden können.
(…)
Bundesverfassungsgericht, Beschl. v. 23.03.2023 – 2 BvR 1507/22
Den vollständigen Artikel lesen Sie in der Fundstelle Hessen 17/2023, Rn. 151.