Der Gefahrenbegriff ist der entscheidende Schlüssel zur Beantwortung der Rechtmäßigkeit polizeilichen Handelns. Dabei hat der Begriff gerade unter dem Eindruck veränderter Bedrohungsszenarien Weiterungen erfahren, die ihn selbst als Bedrohung für ein rechtsstaatliches Polizeirecht erscheinen lassen. Dass dieser Befund aber verfehlt ist, soll nachfolgend belegt werden. Die Änderungen des Polizeirechts sind vielmehr notwendig, um die geänderten Herausforderungen polizeilichen Handelns bewältigen zu können.
Unter der Herrschaft des Grundgesetzes (GG) kommt dem Gebot eines sachgerechten Ausgleichs zwischen Freiheit und Sicherheit zentrale Bedeutung zu. Dabei ist zum einen zu berücksichtigen, dass die Sicherheit des Staates als verfasster Friedens- und Ordnungsmacht und die von ihm zu gewährleistende Sicherheit der Bevölkerung Verfassungswerte sind, die zuvörderst einen staatlichen Schutzauftrag begründen. Dementsprechend ist der Staat verpflichtet, in den Grenzen der Rechtsordnung Einzelne vor rechtswidrigen Eingriffen Dritter zu schützen.[1]
Ausweitung von Eingriffsbefugnissen
Gleichzeitig ist aber festzustellen, dass die Rechtsprechung – insbesondere die des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts[2] – in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine Vielzahl gesetzlicher Regelungen, die eine Ausweitung der Befugnisse der Sicherheitsbehörden ermöglichten, für verfassungswidrig erklärte und in Teilen auch nicht vor überaus kleinteiligen Ableitungen verfassungsrechtlicher Anforderungen an den Inhalt polizeirechtlicher Regelungen aus dem Gedanken der Verhältnismäßigkeit zurückschreckte. Dass das Bundesverfassungsgericht damit seinen Schutzauftrag für die Grundrechte erfüllt, ist Erfüllung des ihm verfassungsrechtlich obliegenden Auftrags.
Dass das Gericht dabei aber – jedenfalls partiell – veränderte Bedrohungslagen und eine substanziell veränderte Bedrohungsqualität nicht hinreichend berücksichtigt, ist Anlass für eine entsprechende Kritik, die sich insbesondere daran entzündet, dass der herkömmliche Gefahrenbegriff nur bedingt tauglich ist, den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gerecht zu werden.
All dies zwingt aus der Perspektive des Verfassungsrechts zur Beantwortung der Frage, wie die dynamischen Veränderungen der Gefahrenlagen sich in das Koordinatensystem grundrechtlicher Freiheit einfügen lassen.
Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung
Es sei in Erinnerung gerufen: Die Anpassung oder auch Erweiterung der Befugnisse von Sicherheitsbehörden ist kein Selbstzweck im Sinne von bloßem Aktionismus, sondern Reaktion (in den 1970er Jahren auf die Terrorismusgefahr seitens der RAF, später auf das Phänomen der Organisierten Kriminalität und seit dem 11.09.2001 auf einen global agierenden, aber lokal organisierten Terrorismus).
Dabei ist der Rechtsstaat gefordert, wenn er, um neuen Herausforderungen gerecht zu werden, das überkommene rechtliche Instrumentarium behutsam fortentwickelt.
Dementsprechend sei auch vor Diffamierungstendenzen gewarnt, die staatliche Institutionen wider besseres Wissen bezichtigen, Bürgerrechte ohne Not auf dem Altar der Sicherheit opfern zu wollen. Das Grundgesetz misst auch und gerade dem Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung eine zentrale Bedeutung zu.
Prävention
Insofern stellen die den Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern zugewiesenen Aufgaben auch legitime Anliegen des Gemeinwohls dar. Im Ergebnis ist der Schutz der Bevölkerung im Vorfeld der Begehung schwerster Straftaten ein wesentlicher Auftrag eines rechtsstaatlichen Gemeinwesens.
Wer dem Staat präventive Mittel – und dies erfasst auch Vorfeldmaßnahmen – aus der „grundrechtsgebundenen“ Hand nehmen will, läuft Gefahr, den Staat und die Gemeinschaft der rechtstreuen Bürger wehrlos gegenüber Bedrohungen zu machen, die die Werte einer freiheitlich verfassten Gemeinschaft gerade negieren.
Vor diesem Hintergrund kann eine sachgerechte und aus gegebenem Anlass gebotene Änderung polizeilicher Befugnisse keinen verfassungsrechtlichen Bedenken begegnen.
Die Entwicklung des Gefahrenbegriffs
Maßgeblich für den polizeilichen Gefahrenbegriff ist zunächst eine Betrachtung seiner Entwicklung.[3] Während der Polizeibegriff im ausgehenden 19. Jahrhundert maßgeblich durch die Kreuzberg-Entscheidung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts von 1882 geprägt wurde und die Polizei auf die Abwehr von Gefahren für die öffentliche Ruhe, Sicherheit und Ordnung beschränkte, sieht sich das Polizeirecht des 21. Jahrhunderts mit einer Veränderung der soziokulturellen und politischen Rahmenbedingungen konfrontiert, die dazu zwingen, neue Gefahrenlagen als solche zu erkennen und sachgerechte Lösungen zu entwickeln.
Will man die Entwicklung des letzten Vierteljahrhunderts charakterisieren, so ist sie dadurch gekennzeichnet, dass die Sicherheitsbehörden in weitaus größerem Maße als bisher antizipativ auf die Beherrschung potenziell unsicherer und unbeherrschbarer Sachverhalte ausgerichtet sein müssen, wenn sie ihren Schutzauftrag erfüllen wollen.
Polizeiliches Handeln wird damit – der tatsächlichen Entwicklung geschuldet – mehr zum Risikovorsorgemanagement, was auch vielfach mit einem Wandel vom Gefahrenabwehrstaat zum Präventionsstaat umschrieben wird.
Vielzahl unterschiedlichster Gefahrenbegriffe
Das entscheidende Merkmal ist aber der Wandel von Wahrscheinlichkeitserwägungen hin zu bloßen Möglichkeiten, die sich einer klaren Bestimmung entziehen und damit den Anschein erwecken, die bloße Möglichkeit einer Gefahrenlage sei ausreichend für staatliche Eingriffe. Wenn man insoweit noch von gesteigerten Anforderungen an das Vorliegen bestimmter Gefahrentypen ausgeht, so kann dies – das Beispiel der Rasterfahndung als weitstreuende Vorfeldmaßnahme belegt dies – zur Funktionslosigkeit einzelner Eingriffsmittel führen.
Was unter dem Mantel der Verhältnismäßigkeit gut gemeint sein mag, kann zu einem Netz materieller Anforderungen führen, die letzten Endes die Bewegungsunfähigkeit der Sicherheitsbehörden nach sich ziehen. Wenn die Gegenwart durch eine Vielzahl unterschiedlichster Gefahrenbegriffe gekennzeichnet ist (erinnert sei hier an die Kategorien Gefahrverdacht, Scheingefahr, konkrete Gefahr, konkretisierte Gefahr, drohende Gefahr, unmittelbare Gefahr etc.), so bedarf es vor allem klarer Grenzziehungen, um grundrechtskonforme Eingriffsbefugnisse zu normieren.
Balance zwischen Freiheit und Sicherheit
Dabei müssen die rechtlichen Rahmenbedingungen auch anpassbar sein, um zu verhindern, dass der präventivpolizeiliche Auftrag durch die Vorenthaltung entsprechender rechtlicher Instrumente gefährdet würde. Dementsprechend hindert die Verfassung den Gesetzgeber auch grundsätzlich nicht daran, die traditionellen rechtsstaatlichen Bindungen im Bereich des Polizeirechts auf der Grundlage einer seiner Prärogative unterliegenden Feststellung neuartiger oder veränderter Gefährdungs- und Bedrohungssituationen fortzuentwickeln.
Die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit darf vom Gesetzgeber neu justiert, die Gewichte dürfen jedoch von ihm nicht grundlegend verschoben werden.[4]
(…)
Den vollständigen Beitrag lesen Sie im Deutschen Polizeiblatt 3.2025, S. 4 ff.
[1] Zuletzt dazu BVerfG, Beschl. v. 14.11.2024 – 1 BvL 3/22 Rn. 89 (PolG NRW).
[2] Vgl. nur BVerfGE 115, 320 ff. (Rasterfahndung); BVerfGE 120, 274 ff. (Online-Durchsuchung); BVerfGE 125, 260 ff. (Vorratsdatenspeicherung); BVerfGE 130, 151 ff. (TKG); BVerfGE 133, 277 ff. (ATDG I); BVerfGE 141, 220 ff. (BKAG); BVerfGE 150, 244 (Kfz-Kennzeichenkontrollen Bayern); BVerfGE 154, 152 ff. (Auslands-Auslands-Fernmeldeaufklärung); BVerfGE 155, 119 ff. (Bestandsdatenauskunft II); BVerfGE 156, 11 ff. (ATDG II); BVerfGE 162, 1 ff. (BayVSG); BVerfGE 165, 1 ff. (SOG MV); BVerfGE 165, 363 ff. (HSOG).
[3] Dazu auch Darnstädt, Der Herbst des Polizeirechts, GSZ 2017, 16 ff.; Volkmann, Prävention durch Verwaltungsrecht: Sicherheit, NVwZ 2021, 1408 ff.
[4] Zum Vorstehenden BVerfGE 115, 320, 360.