Das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht musste in einem Berufungsverfahren über die Frage entscheiden, welchen Abstand Pedelecfahrer beim Überholen untereinander einhalten müssen.
Der Kläger macht gegen den Beklagten Ansprüche aus einem Fahrradunfall geltend. Der Kläger befuhr einen ca. 2,80 m breiten Radweg mit seinem sog. Pedelec (Fahrrad mit elektrischer Tretunterstützung), gefolgt von seiner Ehefrau. Von hinten näherte sich der Beklagte ebenfalls auf einem Pedelec. Der Beklagte überholte zunächst die Ehefrau des Klägers und wollte sodann den Kläger überholen. Dabei kam es unter streitigen Umständen zu einer Berührung der Parteien. Der Kläger stürzte und verletzte sich schwer. Er erlitt u.a. eine Rippen- und Beckenringfraktur.
Beweislast für ausreichenden Sicherheitsabstand
Das Landgericht (LG) hat die Klage abgewiesen (LG Lübeck – kein Datum verfügbar – 5 O 81/23). Der Kläger habe gegen den Beklagten keinerlei Ansprüche. Eine Haftung aus § 7 StVG bestehe nicht, weil es sich bei einem Pedelec rechtlich um ein Fahrrad handele und nicht um ein Kraftfahrzeug.
Auch ein Anspruch aus §§ 823 Abs. 1, Abs. 2 BGB i. V. m. § 229 StGB stehe dem Kläger nicht zu. Denn er habe nicht bewiesen, dass der Beklagte die für den Sturz ursächliche Kollision schuldhaft verursacht habe. Der Unfallhergang sei nach der Beweisaufnahme unklar geblieben.
Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner Berufung, mit der er sein ursprüngliches Klagebegehren weiterverfolgt. Der Überholvorgang des Beklagten und die dabei erfolgte Berührung zwischen den Parteien sei unstreitig. Entgegen der Auffassung des LG liege die Beweislast für einen ausreichenden Sicherheitsabstand (§ 5 Abs. 4 S. 2 StVO) nach der Wertentscheidung der StVO beim Überholer.
Seitliches Abstandsgebot beim innerörtlichen Überholen
Der Mindestabstand betrage für Kraftfahrzeuge innerorts mindestens 1,5 m. Der Beklagte habe ein Fahrzeug mit Motor benutzt und damit ein Kraftfahrzeug. Bei einem Abstand der Räder von 1 m habe der Abstand zwischen den Lenkern nur 42 cm betragen. Der Abstand zwischen den Schultern sei sogar noch geringer gewesen. Zu berücksichtigen seien schließlich noch die natürlichen Schwankungsbewegungen beim Radfahren.
Der Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil und tritt dem Berufungsvorbringen unter Vertiefung seines erstinstanzlichen Vorbringens entgegen. Dass der Beklagte ein Pedelec genutzt habe, sei im Tatbestand des Urteils zutreffend und bindend dargestellt. Der Mindestabstand von 1,5 m beim Überholen gelte nicht für Pedelecs.
Abweisung der Klage durch LG
Die Berufung hat offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg. Das LG hat zugrunde gelegt, dass der Beklagte ein Fahrrad mit elektrischer Tretunterstützung, ein sog. Pedelec, fuhr. Dies war im ersten Rechtszug unstreitig; der Kläger selbst hat von einem Fahrrad gesprochen und nicht etwa von einem elektrischen Kleinkraftrad.
Erhebliche Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der Tatsachenfeststellungen bestehen nicht. Für ein Pedelec greift gemäß § 1 Abs. 3 StVG weder eine Gefährdungshaftung aus § 7 StVG, noch gilt das seitliche Abstandsgebot beim innerörtlichen Überholen von 1,5 m gemäß § 5 Abs. 4 S. 3 StVO n.F. (seit 28.04.2020). Die neuen Mindestabstandsregeln gelten nur für das Überholen mit Kraftfahrzeugen.
Beweislastverteilung ist eindeutig
Entgegen den klägerischen Ausführungen liegt die Beweislast für eine Unterschreitung des – im Gesetz nicht näher definierten – „ausreichenden Seitenabstandes“ beim Überholen gemäß § 5 Abs. 4 S. 2 StVO nicht beim Überholer (hier dem Beklagten), sondern beim zu Überholenden (hier dem Kläger) (so auch KG, Beschl. v. 26.02.2018 – 22 U 146/16).
Beim Überholen zwischen Radfahrern greift kein Erfahrungssatz dahingehend, dass der überholende Radfahrer für einen Sturz des zu überholenden Radfahrers durch schuldhaftes Handeln verantwortlich ist. Vielmehr kommt genauso ein eigener Fahrfehler des zu Überholenden als Unfallursache in Betracht.
Den Beweis für einen schuldhaften Fahrfehler des Beklagten, namentlich durch eine Unterschreitung des gebotenen seitlichen Abstandes beim Überholen, hat der Kläger nicht geführt. Beim Überholen eines Radfahrers durch einen anderen Radfahrer genügt in der Regel ein Abstand zwischen den Fahrenden – nicht zwischen den Lenkern – von einem Meter. Der Beklagte hat den seitlichen Abstand auf etwa einen Meter geschätzt, wobei er den Abstand zwischen den Lenkern nicht angegeben hat. Sein Abstand bezog sich auf die Räder selbst.
Schätzung des Seitenabstandes
Eine verkehrswidrige Unterschreitung des erforderlichen „ausreichenden“ Seitenabstandes lässt sich aus dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht ableiten, weil dafür sämtliche Angaben zu vage sind. Es liegt in der Natur der Sache, dass der Abstand beim Überholen nur geschätzt und nicht gemessen werden kann.
Eine Schätzung unterliegt vielfältigen Unsicherheiten. Fest steht allein, dass der am Unfallort 2,80 m breite Radweg grundsätzlich ein gefahrloses Überholen ermöglicht. Wenn der Kläger rund einen halben Meter vom rechten Rand fuhr (die geschätzten Angaben hierzu unterliegen denselben Unsicherheiten wie die zum Abstand des Beklagten beim Überholen), blieben links vom Kläger noch über 2 m Platz.
Bei mittiger Fahrt auf der jeweiligen „Fahrspur“ betrüge der Abstand beim Überholen 1,40 m bei jeweils 0,7 m Platz zum rechten bzw. linken Rand. Es ist nicht ohne Weiteres anzunehmen, dass der Beklagte den Kläger unter diesen großzügigen Platzverhältnissen mit einem zu geringen Abstand überholt hat, zumal das zuvor erfolgte Überholen der Zeugin S. offenbar unauffällig war.
Frage nach Gegenverkehr
Anders wäre dies zu beurteilen, wenn im Zeitpunkt des Überholvorgangs Gegenverkehr geherrscht hätte. Auch dies konnte der Kläger jedoch nicht beweisen. Es mag sein, dass das von der Polizei gefertigte Lichtbild nicht die Verkehrslage zur Unfallzeit wiedergibt und dass tatsächlich reger Verkehr einschließlich gelegentlichen Gegenverkehrs geherrscht hat.
Aber auch daraus lässt sich nicht ableiten, dass der Kläger bei konkret entgegenkommendem Verkehr und dadurch „beengt“ überholt hat. Denn auch bei allgemein regerem Verkehr ist es möglich, dass der Beklagte eine Phase zum Überholen genutzt hat, in der die „Gegenspur“ frei war. Etwas anderes lässt sich dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht entnehmen.
(…)
OLG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 19.09.2024 – 7 U 29/24
Den vollständigen Beitrag lesen Sie im RdW-Kurzreport 11/2025, Rn. 143.