Rechtliches

Gesetzliche Unfallversicherung: Schulausflug

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Der Sturz eines 17-Jährigen vom Dach einer Jugendherberge, um zum benachbarten Mädchenzimmer zu gelangen, wurde als Arbeitsunfall anerkannt. Zum Unfallversicherungsschutz bei einem Sturz vom Dach einer Jugendherberge während eines mehrtägigen, durch den Ausbildungsbetrieb durchgeführten Einführungsseminars erging ein Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg.1

Es ist Teil eines gruppendynamischen Prozesses unter Jugendlichen und Ausdruck alterstypischer Unreife, wenn ein 17-jähriger Auszubildender mit dem Willen, einen gemeinsamen Abend mit weiteren Auszubildenden fortzusetzen und in dem Bewusstsein, dass der Flur durch eine Aufsichtsperson überwacht wird, über das Dach der Jugendherberge zum Nachbarzimmer klettert.

Ein lernbehinderter junger Mann begann im September 2014 eine durch die Bundesagentur für Arbeit geförderte Ausbildung zum Fachpraktiker Hauswirtschaft. Im November 2014 fand in der Jugendherberge eine dreitägige Einführungsveranstaltung für die Auszubildenden aus den Bereichen Küche, Hauswirtschaft, Farbe und Holz statt. Hieran nahmen insgesamt elf Auszubildende, darunter auch der 17-Jährige als einziger junger Mann seiner Ausbildungsgruppe, und deren Ausbilder teil. Am ersten Abend fanden in der Gruppe Kooperationsübungen statt. Anschließend hielten sich die Teilnehmer in ihren Zimmern auf; der 17-Jährige besuchte – zeitweise gemeinsam mit seinem Zimmergenossen – erlaubtermaßen die drei Mädchen im Nachbarzimmer.

17-Jähriger kündigt nächtlichen Besuch auf Mädchenzimmer an

Es wurde „Blödsinn gemacht, Musik gehört und gequatscht“, auch heimlich Alkohol konsumiert. Der 17-Jährige trank zwei Wodka- Orange, was zu einer Blutalkoholkonzentration von 0,5 Promille führte. Der Betreuer, der den Abend zunächst gegen 22 Uhr beenden wollte, wurde von den Auszubildenden überredet, noch eine Stunde zuzugeben. Gegen 23 Uhr forderte er die Teilnehmer auf, ihre Zimmer aufzusuchen. Der junge Mann folgte dieser Aufforderung, kündigte den Mädchen, mit denen er den Abend verbracht hatte, jedoch vorher an, über das Dach ins benachbarte Mädchenzimmer zurückzukommen. Diese hielten seine Ankündigung für einen Spaß. Mindestens eine Teilnehmerin sagte zu ihm, dass er „das sowieso nicht machen“ wird.

Der Betreuer kontrollierte die Einhaltung der Bettruhe etwa gegen 23.30 Uhr und hielt sich auch weiterhin zeitweise im Flur auf, was die Teilnehmer wussten. Nach dem Kontrollbesuch stand der 17-Jährige wieder auf, öffnete das Fenster und kletterte auf das Dach, um auf diesem Weg zum Mädchenzimmer zu gelangen und den gemeinsamen Abend fortzusetzen. Dabei verlor er den Halt, stürzte aus etwa acht Metern Höhe auf den Boden und erlitt mehrere Frakturen, u.a. im Bereich des linken Oberarms, des Beckens und der Wirbelsäule. Nach diversen Operationen ist bei ihm eine massive Bewegungseinschränkung des gesamten linken Armes verblieben.

Die beklagte Berufsgenossenschaft (BG) gewährte dem jungen Mann zunächst einen Vorschuss in Höhe von 2.600 € auf die voraussichtlich zu gewährenden Geldleistungen, forderte nach weiterer Überprüfung jedoch den vorgeschossenen Betrag zurück und lehnte die Anerkennung des Sturzes vom November 2014 als Arbeitsunfall ab. Denn der Entschluss, durch das Fenster in das benachbarte Mädchenzimmer zu klettern, stehe grundsätzlich in keinem Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit als Teilnehmer der Ausbildung und sei somit dem privaten, unversicherten Bereich zuzuordnen. Hinzu komme, dass der 17-Jährige alkoholisiert gewesen sei; es sei bekannt, dass auch bei Erwachsenen Hemmschwellen und Gefahrenbewusstsein bei zunehmendem Alkoholspiegel abnähmen.

Das Sozialgericht hat die von dem 17-Jährigen angefochtene Entscheidung der BG aufgehoben und den Sturz vom November 2014 als Arbeitsunfall anerkannt. Die hiergegen von der BG eingelegte Berufung hat der 9. Senat des Landessozialgerichts zurückgewiesen: Als Teilnehmer an einer von der Bundesagentur für Arbeit geförderten Ausbildungsmaßnahme sei der junge Mann bei allen Verrichtungen während des Einführungsseminars unfallversichert gewesen, die in innerem Zusammenhang mit der Ausbildung standen. Das Klettern über das Dach der dreistöckigen Jugendherberge in Richtung des benachbarten Mädchenzimmers mit dem Willen, den gemeinsamen Abend fortzusetzen und mit dem Wissen, dass der Flur überwacht wurde, stehe noch in einem solchen inneren Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit.

Gericht: Kletteraktion ist Folge von altersbedingter Unreife

Der Versicherungsschutz sei nicht dadurch aufgehoben, dass sich der 17-Jährige mit seiner Kletterei – objektiv betrachtet – in hohem Maße vernunftwidrig und gefahrbringend verhalten habe. Denn sein Sturz sei Folge seiner altersbedingten Unreife und eines für Jugendliche seines Alters typischen gruppendynamischen Prozesses gewesen. Durch das gemeinsame Verbringen des Abends nach Abschluss des Schulungsprogramms bei Musik, Gesprächen, „Quatsch machen“ und maßvollem Alkoholgenuss sei ein gruppendynamischer Prozess in Gang gesetzt worden. Es erscheine nachvollziehbar und gruppentypisch, dass der Jugendliche den Wunsch verspürt habe, den Abend „zu verlängern“. Seine Idee, den Flur zu vermeiden und nach einem anderen Weg zu suchen, sei insoweit ebenfalls einem gruppendynamischen Prozess entsprungen. Nach der entsprechenden Ankündigung, über das Dach zurückzukommen, die die Mädchen mit Unglauben („das machst du sowieso nicht“) quittiert hätten, sei er, dem seitens seiner Betreuerin im Kreis seiner Kolleginnen das Streben nach „Coolness“ („Hahn im Korb“) attestiert wurde, in einen gewissen Zugzwang geraten. Mit Blick auf diesen gruppendynamischen Prozess habe sich der 17-Jährige nach dem nächtlichen Kontrollbesuch jugend- bzw. gruppentypisch schlafend gestellt und seine Ankündigung wahrgemacht, aus dem Fenster zu steigen. Die Idee, die Konfrontation mit einer eventuell im Flur befindlichen Aufsichtsperson durch die Nutzung eines anderen „Weges“ zu vermeiden, erscheine durchaus naheliegend.

Die dann von dem jungen Mann gewählte Lösung, über das Dach zum Nachbarzimmer zu klettern, sei zwar unvernünftig und leichtsinnig, aber nicht komplett fernliegend. Die Selbstüberschätzung von ihm, das Mädchenzimmer unfallfrei über das Dach zu erreichen, sei jugendtypisch und unter Berücksichtigung des konkreten Sachverhalts auch nicht völlig vernunftwidrig. Der nach der Hausordnung der Jugendherberge verbotene, von dem 17-Jährigen nicht bestrittene Konsum von Alkohol lasse den Versicherungsschutz ebenfalls nicht entfallen. So habe keiner der vernommenen Zeugen den Jugendlichen als betrunken beschrieben; auch im erstversorgenden Krankenhaus sei er als ansprechbar, orientiert und lediglich leicht alkoholisiert wirkend eingeschätzt worden. Besondere Auswirkungen einer Alkoholisierung seien damit nicht dokumentiert.

Hinweis zur Rechtslage

§ 2 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch [SGB VII]: Kraft Gesetzes sind versichert (…).14. Personen, die (…) an einer Maßnahme teilnehmen, wenn die Person selbst oder die Maßnahme über die  undesagentur für Arbeit, einen nach § 6 Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 des Zweiten Buches zuständigen Träger oder einen nach § 6a des Zweiten Buches zugelassenen kommunalen Träger gefördert wird, (…).

§ 8 SGB VII: (1) Arbeitsunfälle sind Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach § 2 (…) begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen. (…).

Weiterer Hinweis

Die Anerkennung als Arbeitsunfall hat weitreichende Folgen: So hat die zuständige Berufsgenossenschaft dem Betroffenen unter bestimmten Voraussetzungen u.a. Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (z.B. eine medizinische Rehabilitationsmaßnahme oder eine Umschulung) zu erbringen, Verletzten-/ Übergangsgeld oder eine Verletztenrente zu zahlen.

 

1 LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 14.12.2021 – L 9 U 180/20.

 

Entnommen aus  RdW Kurzreport, Heft 10/2022