Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg (LSG) hat entschieden, dass eine Frau, die auf dem Weg zum Geschäft ihres Hörgeräteakustikers stürzt, nicht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung steht.
Die Frau ist im Dienst wie auch im privaten Bereich auf Hörgeräte angewiesen
Die 1960 geborene und als Fahrdienstleiterin für die Deutsche Bahn AG tätige Frau litt unter Einschränkungen ihres Hörvermögens. Daher hatte sie mit ihrer Arbeitgeberin schriftlich vereinbart, bei ihrer Arbeit stets Hörgeräte zu tragen und hierfür vorsorglich auch immer Ersatzbatterien mitzuführen. Am 12.08.2019 verrichtete die Frau ihre Spätschicht, als ihre Hörgeräte unerwartet ausfielen und sie die Batterien wechseln musste.
Daher machte sie sich am Vormittag des folgenden Tages auf den Weg zum Geschäft ihres Hörgeräteakustikers, um dort neue Ersatzbatterien zu besorgen. Im unmittelbaren Anschluss wollte sie erneut ihre Spätschicht im Stellwerk antreten. Am Bordstein vor dem Geschäft geriet sie ins Straucheln, stürzte und zog sich einen Bruch am Kopf des Oberarmknochens zu.
Die Frau verwies auf die arbeitsvertragliche Verpflichtung, Hörgeräte zu tragen
Die Frau begehrte von der zuständigen Unfallkasse die Feststellung, dass sie am 13.08.2019 einen Arbeitsunfall erlitten hat. Bei der unfallbringenden Verrichtung habe es sich um eine solche zur Erhaltung der Arbeitsfähigkeit gehandelt, die unvorhergesehen gewesen sei. Bei Dienstende am 12.08.2019 sei der Hörgeräteakustiker bereits geschlossen gewesen, sodass sie am Folgetag ihren Arbeitsweg genutzt habe, um neue Batterien zu erwerben.
Die Unfallkasse lehnte die Anerkennung eines Arbeitsunfalls ab, da der beabsichtigte Kauf der Ersatzbatterien eine unversicherte eigenwirtschaftliche Verrichtung darstelle, die keinen Versicherungsschutz begründe.
Bei dem Sturz handelt es sich um einen Unfall
Das LSG teilte die Auffassung der Unfallkasse. Bei dem Ereignis vom 13.08.2019 hat es sich nicht um einen Arbeitsunfall gehandelt. Arbeitsunfälle sind nach § 8 Abs. 1 SGB VII Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Unfälle sind dabei zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen.
Ein Arbeitsunfall setzt daher voraus, dass die Verrichtung zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer oder sachlicher Zusammenhang), sie zu dem zeitlich begrenzten, von außen auf den Körper einwirkenden Unfallereignis geführt hat (Unfallkausalität) und dass das Unfallereignis einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten objektiv und rechtlich wesentlich verursacht hat (haftungsbegründende Kausalität).
Arbeitsgeräte müssen zur Verrichtung der versicherten Tätigkeit eingesetzt werden
Mit dem Sturz am 13.08.2019 auf dem öffentlichen Gehweg hat die Frau zwar einen Unfall in diesem Sinne erlitten. Ein gesetzlicher Versicherungsschutz bestand aber zum Zeitpunkt des Unfalls nach § 8 Abs. 2 Nr. 5 SGB VII nicht. Danach sind versicherte Tätigkeiten auch ein mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängendes Verwahren, Befördern, Instandhalten und Erneuern eines Arbeitsgeräts oder einer Schutzausrüstung sowie deren Erstbeschaffung, wenn diese auf Veranlassung der Unternehmer erfolgt.
Ein Gegenstand ist grundsätzlich nur dann ein Arbeitsgerät, wenn er objektiv für die Verrichtung der versicherten Tätigkeit geeignet ist und für die versicherte Tätigkeit gebraucht wird. Wenn es sich um Gegenstände handelt, die auch zu anderen Zwecken als zur Arbeit verwendet werden und deshalb nicht schon ihrer Natur nach als Arbeitsgerät anzusehen sind, ist es erforderlich, dass das Gerät seiner Zweckbestimmung nach hauptsächlich für die Tätigkeit in dem Unternehmen gebraucht wird.
Bei den Hörgeräten handelte es sich nicht um Arbeitsgeräte
Eine hauptsächliche Nutzung ist dann gegeben, wenn die Nutzung für andere Zwecke daneben nicht ins Gewicht fällt. Ein Gebrauch für die Arbeit in erheblichem Maß oder wesentlich genügt dazu nicht. Vielmehr ist ein nahezu ausschließlicher Gebrauch erforderlich.
Persönliche Gegenstände wie Hörgeräte und Brillen gehören grundsätzlich nicht zu den Arbeitsgeräten. Dies gilt selbst dann, wenn sie eigens wegen besonderer Arbeitsumstände nur in Verbindung mit ihnen benutzt werden. Bei den Hörgeräten der Frau handelt es sich daher nicht um Arbeitsgerät, das sie durch einen Kauf von Ersatzbatterien hätte in Stand halten können.
Die Hörgeräte sind bereits objektiv nach ihrer Zweckbestimmung nicht geeignet, die berufliche Tätigkeit einer Fahrdienstleiterin auszuüben. Sie werden auch ihrer Zweckbestimmung nach nicht hauptsächlich für die Tätigkeit im Unternehmen gebraucht, da ihre Nutzung für andere, betriebsfremde Zwecke jedenfalls nicht unerheblich ins Gewicht fällt. Vielmehr ist davon auszugehen, dass der gesundheitliche Zustand der Frau das Tragen der Hörgeräte auch privat erfordert.
Es wurde kein versicherter Weg zurückgelegt
Der Unfall der Klägerin stellt sich auch nicht als versicherter Wegeunfall dar. Nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII zählt grundsätzlich das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit als versicherte Tätigkeit im Rahmen der gesetzlichen Unfallversicherung. Erforderlich ist dabei ein sachlicher Zusammenhang des unfallbringenden Weges mit der versicherten Tätigkeit.
Maßgeblich ist dabei die Handlungstendenz des Versicherten. Diese muss auf die versicherte Tätigkeit gerichtet sein. Der Unfall der Frau stellt zunächst keinen versicherten Wegeunfall in Bezug auf das Erreichen der Betriebsstätte im Stellwerk dar. Vielmehr hatte sie ihren direkten Arbeitsweg unterbrochen, um das Geschäft ihres Hörgeräteakustikers aufzusuchen.
Eine betriebsbezogene Verrichtung lag ebenfalls nicht vor
Der Weg zum Geschäft des Hörgeräteakustikers stellt auch keine betriebsbezogene Verrichtung dar, die geeignet wäre, den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung zu vermitteln. Es obliegt jedem Arbeitnehmer, funktionsfähig zum Dienst zu erscheinen und persönliche Einschränkungen von sich aus soweit wie möglich zu kompensieren, bspw. eine im privaten Bereich verordnete Sehhilfe oder eben auch ein Hörgerät zu tragen.
Auch wenn diese Verpflichtung arbeitsvertraglich noch einmal ausdrücklich festgehalten wird, so führt dies nicht dazu, dass Unfälle, die im Zusammenhang mit der Beachtung dieser Verpflichtung eintreten, unter den gesetzlichen Unfallversicherungsschutz fielen.
Das LSG hat gegen sein Urteil die Revision zugelassen. Die Rechtsfrage, unter welchen Voraussetzungen ein Arbeitgeber durch die Gestaltung von Neben- oder Zusatzabreden zu einem Arbeitsvertrag Unfallversicherungsschutz für bestimmte Verrichtungen des Beschäftigten bei der Erfüllung dieser Nebenpflichten begründen kann, hat grundsätzliche Bedeutung.
Das Revisionsverfahren wird bei dem Bundessozialgericht (BSG) unter dem Aktenzeichen B 2 U 8/22 R geführt.
Entnommen aus der Gemeindeverwaltung Rheinland-Pfalz 10/2023, Rn. 99.